Das Geld - 18
war mit sechzehn Jahren eines Abends in einem Haus in der Rue de la Harpe, wo sie und ihre Mutter eine kleine Wohnung im sechsten Stock hatten, auf der Treppe genommen worden. Aber was das schlimmste war: der Betreffende, ein verheirateter Mann, der erst vor acht Tagen mit seiner Frau aus der Provinz gekommen war und bei einer Dame im zweiten Stockwerk zur Untermiete wohnte, hatte sich so verliebt gezeigt, daß er der armen Rosalie die Schulter ausrenkte, als er sie allzu stürmisch gegen eine Treppenkante drückte. Daher der gerechte Zorn der Mutter, die beinahe einen abscheulichen Skandal gemacht hätte, obwohl die Kleine unter Tränen eingestand, daß sie es durchaus willig getan habe, daß es ein Unfall gewesen sei und daß es ihr großen Kummer bereiten würde, wenn man den Herrn ins Gefängnis steckte. Da schwieg die Mutter und begnügte sich damit, diesem Mann eine Summe von sechshundert Francs abzufordern, auf zwölf Wechsel verteilt, so daß sie ein Jahr lang monatlich fünfzig Francs erhalten sollte; und es gab keine häßliche Feilscherei, das war sogar noch bescheiden, denn ihre Tochter, die gerade ihre Schneiderlehre beendet hatte, verdiente nichts mehr, lag krank im Bett, kostete ein Heidengeld; sie wurde übrigens so schlecht behandelt, daß sich die Muskeln an ihrem Arm verkürzten und sie zum Krüppel wurde. Vor Ende des ersten Monats war der Herr verschwunden, ohne seine Anschrift zu hinterlassen. Und das Unglück ging weiter, schlug drein wie das Hagelwetter: Rosalie kam mit einem Knaben nieder, verlor ihre Mutter, ergab sich einem schmutzigen Lebenswandel und geriet in bitterste Not. In der Cité de Naples bei ihrer Cousine gestrandet, trieb sie sich, bis sie sechsundzwanzig war, auf den Straßen herum, da sie sich ihres Armes nicht bedienen konnte, verkaufte bisweilen Zitronen in den Markthallen, verschwand wochenlang mit Männern, die sie betrunken und grün und blau geschlagen wieder nach Hause schickten. Schließlich war ihr vor einem Jahr das Glück widerfahren, daß sie an den Folgen einer Sauftour, die abenteuerlicher war als alle anderen, draufging. Und die Méchain hatte Victor, das Kind, behalten müssen. Von diesem ganzen Abenteuer blieben nur die zwölf unbezahlten, mit »Sicardot« unterschriebenen Wechsel. Man hatte nie mehr darüber in Erfahrung bringen können, als daß der Betreffende Sicardot hieß.
Wieder streckte Busch den Arm aus und griff nach der Akte Sicardot, einem dünnen Hefter aus grauer Pappe. Noch hatten sich keine Unkosten ergeben, nur die zwölf Wechsel waren da.
»Wenn Victor wenigstens artig wäre!« jammerte die alte Frau. »Aber stellen Sie sich vor, ein furchtbares Kind … Ach, das kommt einen hart an, solche Erbschaften zu machen wie diesen Bengel, der mal am Galgen enden wird, und diese Papierfetzen, aus denen ich nie etwas herausschlagen werde!«
Busch starrte mit seinen großen blassen Augen unverwandt auf die Wechsel. Wie oft hatte er sie so untersucht und gehofft, in einer bisher nicht bemerkten Einzelheit, in der Form der Buchstaben, ja vielleicht sogar in der Narbe des Stempelpapiers einen Hinweis zu entdecken! Diese spitze, feine Handschrift kam ihm irgendwie bekannt vor, behauptete er.
»Seltsam«, wiederholte er noch einmal, »solche langgezogenen A und O, die wie lauter I aussehen, habe ich bestimmt schon gesehen.«
Gerade in diesem Augenblick klopfte es, und er bat die Méchain, die Hand auszustrecken und aufzumachen, denn das Zimmer ging direkt auf die Treppe. Man mußte es durchqueren, wenn man in das andere Zimmer mit Blick auf die Straße gelangen wollte. Die Küche, ein luftloses Loch, befand sich auf der anderen Seite des Treppenabsatzes.
»Herein, mein Herr.«
Saccard trat ein. Er lächelte, denn er mokierte sich immerhin über das Kupferschild an der Tür, auf dem in dicken schwarzen Lettern stand: Streitsachen.
»Ach ja, Herr Saccard, Sie kommen wegen dieser Übersetzung … Mein Bruder ist dort im anderen Zimmer … Gehen Sie nur hinein.«
Aber die Méchain versperrte völlig den Durchgang, und sie musterte den Neuankömmling mit wachsendem Erstaunen. Es bedurfte eines richtigen Manövers: er wich auf die Treppe zurück, sie selbst kam heraus und trat auf dem Treppenabsatz beiseite, so daß er eintreten und endlich in das Nebenzimmer gelangen konnte, wo er verschwand. Während dieses komplizierten Bewegungsvorganges hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen.
»Oh!« schnaufte sie beklommen. »Diesen Herrn Saccard habe ich noch
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