Das Geld - 18
plauderten sie leise miteinander.
»Wenn Sie wüßten, Frau Gräfin, welcher Hölle ich den Jungen entrissen habe! Ich empfehle ihn Ihrem Wohlwollen, wie ich ihn allen Damen und Herren hier empfohlen habe.«
»Hat er Eltern? Kennen Sie sie?«
»Nein, seine Mutter ist gestorben … Er hat nur noch mich.«
»Armer Junge! Ach, wieviel Elend gibt es doch!«
Währenddessen ließ Victor die Brote nicht aus den Augen. Eine wilde Begehrlichkeit lag in seinen flammenden Blicken; von der Marmelade, die mit dem Messer aufgestrichen wurde, schweiften sie zu Alices zarten weißen Händen, zu ihrem dünnen Hals, zu ihrer ganzen Erscheinung einer schmächtigen Jungfrau, die sich im vergeblichen Warten auf die Heirat verzehrte. Wenn er mit ihr allein gewesen wäre, hätte er ihr den Kopf ordentlich in den Bauch gestoßen, daß sie an die Wand getaumelt wäre, und ihr die Brote weggenommen! Aber das junge Mädchen hatte seine gefräßigen Blicke bemerkt und sagte, nachdem es fragend die Nonne angesehen hatte:
»Hast du Hunger, mein Kleiner?«
»Ja.«
»Und du verachtest Marmelade nicht?«
»Nein.«
»Dann wäre es dir recht, wenn ich dir zwei Brote fertigmachte, die du nach dem Baden essen könntest?«
»Ja.«
»Viel Marmelade auf wenig Brot, nicht wahr?«
»Ja.«
Sie lachte und scherzte, er aber blieb ernst und bekam den Mund nicht zu und verschlang sie und ihre leckeren Sachen mit gierigen Augen.
In diesem Augenblick klang Freudengeschrei, ein lauter Spektakel vom Knabenhof herauf, wo die Vieruhrpause begönnen hatte. Die Werkstätten leerten sich, die Zöglinge hatten eine halbe Stunde Zeit, um zu vespern und sich die Beine zu vertreten.
»Du siehst«, sagte Frau Caroline, die Victor an ein Fenster geführt hatte, »wenn man arbeitet, darf man auch spielen … Du arbeitest doch gern?«
»Nein.«
»Aber du spielst gern?«
»Ja.«
»Na schön! Wenn du spielen willst, mußt du auch arbeiten … Das kommt alles noch, du wirst schon vernünftig sein, da bin ich ganz sicher.«
Er antwortete nicht. Freudige Erregung spiegelte sich in seinem Gesicht, als er die losgelassenen, herumspringenden, schreienden Jungen sah; und seine Blicke kehrten zu den Broten zurück, die das junge Mädchen geschmiert und auf einen Teller gelegt hatte. Ja, allezeit Freiheit und Freude: etwas anderes wollte er nicht! Sein Bad war fertig, man führte ihn weg.
»Mit dem kleinen Herrn da wird es nicht einfach sein, glaube ich«, sagte die Nonne sanft. »Ich mißtraue ihnen, wenn sie ein schiefes Gesicht haben.«
»Aber er ist doch nicht häßlich«, murmelte Alice, »und man könnte ihn für achtzehn halten, wenn er einen so ansieht.«
»Das ist wahr«, schloß Frau Caroline mit einem leichten Schauder, »er ist sehr frühreif für sein Alter.«
Bevor die Damen gingen, wollten sie sich noch das Vergnügen gönnen, den kleinen Rekonvaleszentinnen zuzusehen, wie sie ihre Brote aßen. Die eine vor allem verdiente Aufmerksamkeit, ein blondes Mädchen von zehn Jahren, schon mit wissenden Augen, einem fraulichen Äußeren und dem frühreifen, kränklichen Fleisch aus den Pariser Vororten. Es war die übliche Geschichte: der Vater ein Trunkenbold, der sich von der Straße seine Geliebten mitbrachte und mit der einen plötzlich verschwunden war; die Mutter, die sich einen anderen Mann nahm, dann wieder einen anderen, und selber dem Alkohol verfiel; und mittendrin die Kleine, die von all diesen Männern verprügelt wurde, wenn sie nicht gar versuchten, sie zu vergewaltigen. Eines Morgens hatte die Mutter sie einem Maurer, den sie am Abend zuvor mitgebracht hatte, aus den Armen reißen müssen. Man erlaubte dieser verkommenen Mutter dennoch, ihr Kind zu besuchen, denn sie selbst hatte flehentlich darum gebeten, man solle es ihr wegnehmen; in ihrer Verworfenheit hatte sie sich eine glühende Mutterliebe bewahrt. Und sie war gerade da, eine magere, gelbgesichtige, verwüstete Frau; mit tränenheißen Lidern saß sie neben dem weißen Bett, in dem ihre Göre, sehr sauber und den Rücken mit Kopfkissen gestützt, artig ihre Brote verzehrte.
Sie erkannte Frau Caroline, denn sie hatte sich hilfesuchend an Saccard gewandt.
»Ach, Frau Caroline, jetzt ist meine arme Madeleine noch einmal gerettet. Sie hat unser ganzes Unglück im Blut, sehen Sie, und der Arzt hatte mir schon gesagt, daß sie nicht mehr länger leben würde, wenn sie weiter bei uns so herumgestoßen wird … Hier dagegen hat sie Fleisch und Wein, hier kann sie atmen und hat ihre Ruhe …
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