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Das Geld - 18

Das Geld - 18

Titel: Das Geld - 18 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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ich Ihnen.«
    Von der Cité de Naples bis zum »Werk der Arbeit« am Boulevard Bineau konnte Frau Caroline nur einzelne Silben aus Victor herausbekommen, der mit seinen leuchtenden Augen die Straße verschlang, die breiten Alleen, die Passanten und die reichen Häuser. Er konnte nicht schreiben und kaum lesen, denn er hatte immer die Schule geschwänzt, um auf den Festungswerken herumzustrolchen; und im Gesicht des zu schnell gereiften Kindes standen nur die hemmungslosen Begierden seiner Rasse geschrieben, der Drang und das Ungestüm zu genießen, verschlimmert durch den Nährboden des Elends und der scheußlichen Beispiele, in dem er aufgewachsen war. Auf dem Boulevard Bineau funkelten die Augen des jungen Raubtiers noch stärker, als er aus dem Wagen stieg und über den Haupthof ging, den rechts und links die Gebäude für die Knaben und für die Mädchen säumten. Schon hatte sein Blick die mit schönen Bäumen bepflanzten großen Innenhöfe erspäht, die fayencegekachelten Küchen, deren offene Fenster Bratendüfte ausströmten, die marmorgeschmückten Speisesäle, lang und hoch wie Kirchenschiffe, diese ganze königliche Pracht, die die Fürstin in ihrem Wiedergutmachungswahn den Armen schenken wollte. Im Hauptgebäude angekommen, wo die Verwaltung untergebracht war, wurde er von Abteilung zu Abteilung geführt, um mit den üblichen Formalitäten aufgenommen zu werden, und hörte den Widerhall seiner neuen Schuhe auf den endlosen Fluren und breiten Treppen, die von Luft und Licht überflutet und mit den reichen Dekors eines Palastes versehen waren. Seine Nüstern bebten, das alles sollte ihm gehören!
    Ins Erdgeschoß zurückgekehrt, um ein Schriftstück unterschreiben zu lassen, geleitete ihn Frau Caroline durch einen anderen Korridor und führte ihn vor eine Glastür; dort konnte er eine Werkstatt sehen, in der Knaben seines Alters vor Werktischen standen und die Holzschnitzerei erlernten.
    »Du siehst, mein Kleiner«, sagte sie, »man arbeitet hier, weil man arbeiten muß, wenn man gesund und glücklich sein will … Abends ist Unterricht, und ich rechne damit, nicht wahr, daß du brav bist und gut lernst … Du selbst hast über deine Zukunft zu entscheiden, eine Zukunft, wie du sie dir nie hast träumen lassen.«
    Eine finstere Falte hatte sich in Victors Stirn eingegraben. Er antwortete nicht, und seine jungen Wolfsaugen warfen nur noch die schiefen Blicke eines neidischen Räubers auf diese zur Schau gestellte verschwenderische Pracht: er wollte alles haben, aber ohne etwas zu tun; er wollte es erobern, sich daran ergötzen mit Klauen und Zähnen. Von Stund an fühlte er sich dort nur noch als Empörer, als Gefangener, der von Diebstahl und Ausbruch träumt.
    »Jetzt ist alles geregelt«, sagte Frau Caroline. »Wir gehen nun in den Baderaum hinauf.«
    Es war üblich, daß jeder neue Zögling nach seiner Aufnahme ein Bad nahm; die Wannen befanden sich oben neben der Krankenstation, die aus zwei kleinen Schlafsälen bestand – der eine für die Knaben, der andere für die Mädchen – und neben der Wäschekammer lag. In dieser wunderbaren, ganz in lackiertem Ahorn gehaltenen Wäschekammer mit drei Reihen tiefer Schränke und auf dieser Musterkrankenstation von makelloser Helle und Weiße, heiter und sauber wie die Gesundheit selber, herrschten die sechs Ordensschwestern. Auch die Damen der Aufsichtskommission verbrachten hier am Nachmittag zuweilen eine Stunde, doch weniger um zu kontrollieren, als um dem Werk ihre aufopferungsvolle Hilfe angedeihen zu lassen.
    Zufällig war die Gräfin Beauvilliers mit ihrer Tochter Alice in dem Raum, der die beiden Krankenzimmer trennte. Sie brachte ihre Tochter oft mit hierher, um sie zu zerstreuen, indem sie sie teilhaben ließ an der Freude über das Werk der Barmherzigkeit. An diesem Tag half Alice einer der Schwestern, Marmeladenbrote für zwei kleine Genesende zu schmieren, die schon wieder schleckern durften.
    »Ach«, sagte die Gräfin beim Anblick Victors, den man hatte setzen lassen, solange sein Bad bereitet wurde, »wohl ein Neuer.«
    Für gewöhnlich verhielt sie sich Frau Caroline gegenüber förmlich und grüßte sie nur mit einem Kopfnicken, ohne je das Wort an sie zu richten, vielleicht aus Angst, nachbarliche Beziehungen mit ihr anknüpfen zu müssen. Aber dieser Knabe, den Frau Caroline hereinführte, der Ausdruck tätiger Güte, mit der sie sich um ihn bemühte, rührten die Gräfin offenbar und ließen sie aus ihrer Reserviertheit heraustreten. So

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