Das Geloebnis
schwieg, als bewegten ihn geheime Sorgen. Schließlich zog er den Brief hervor. »Ich kann das nicht verstehen«, sagte er zu Sheng.
Er warf Sheng den Brief zu, und Sheng sah, daß der Brief von dem Amerikaner stammte. Er war auf chinesisch geschrieben, nicht von dem Amerikaner selbst, sondern von jemand, der für ihn und auf seinen Befehl geschrieben hatte. In dem Brief stand, daß der General alle seine Truppen an der Grenze festhalten sollte, bis weiterer Bescheid käme.
»Ich verstehe das nicht«, wiederholte der General. »Ich kam in der Erwartung her, den Befehl zum morgigen Weitermarsch vorzufinden. Statt dessen finde ich den Befehl vor, zu warten, bis weiterer Bescheid kommt. Was für ein Bescheid – wessen Bescheid?«
Sie blickten einander an.
»Ich glaube, daß der Bescheid von denen über den Amerikaner kommt«, sagte Sheng sehr langsam.
»Das vermute ich auch«, gab der General nachdenklich zurück.
10
Wer weiß, wie mühsam es ist, ungeduldig drängende Männer an der Koppel zu halten, Männer, die darauf brennen, weiterzuziehen, und die nicht verstehen können, warum sie zurückgehalten werden? An diesem Abend sprach Sheng mit dem General nicht lange, denn er entdeckte bald, daß er selber ebensoviel wußte wie der General, und keiner von ihnen wußte überhaupt etwas. Betrübt und zweifelvoll ging er fort, und der General, den er zurückließ, saß da, als bestünde er aus Stein.
In den nächsten Tagen verging kaum eine Stunde, ohne daß einer der Soldaten zu Sheng kam und ihn fragte, wann der Marsch weiterginge. Sie näherten sich ihm höflich, brachten die eine oder die andere Entschuldigung vor, aber der Grund ihres Kommens war stets der gleiche: »Wann werden wir kämpfen?«
Was konnte Sheng anderes sagen als die Wahrheit, die darin bestand, daß er es nicht wußte? Seine Leute starrten ihn an, und einer der kühnsten entgegnete: »Warum ermittelt Ihr es nicht, großer Bruder? Fragt doch den General.«
»Er weiß es ebensowenig«, bekannte Sheng offen.
Murmelnd gingen sie weg, denn diese Männer waren nicht gelehrt worden, vor ihren Führern stumme Tiere zu sein. Jeder Mann hatte Selbstachtung, und jeder war imstande, im Kampf für sich selber zu sorgen. Der Preis für diese Art Soldaten war nicht derselbe, wie ihn der Feind für seine stumm gehorchenden Kreaturen bezahlte. Shengs Männer kämpften nur gut, wenn sie wußten, warum sie kämpften und wo und gegen wen. Sie sprachen miteinander, und wenn sie einen Weg für besser hielten als den vom Führer gewählten, so sagten sie es, denn sie waren freie Männer und kämpften als freie Männer.
Weil sie aber frei waren, fühlten sie sich jetzt dazu berechtigt, sich zu ärgern, den Himmel wegen dieser Verzögerung zu verfluchen und über das Warten ihrer Führer zu wettern. Sie alle waren dafür, einen Ausfall nach Burma zu machen, ohne mit törichter Höflichkeit auf die Aufforderung der Engländer zu harren.
»Welcher verdammte dieser oder jener hält uns hier?« hörte Sheng eines Tages einen seiner Leute seinen Kameraden zurufen, als niemand ihn in der Nähe vermutete. Es war Mittag; die Soldaten hatten ihre Mahlzeit eingenommen und trieben sich müßig bei ihren Baracken in der Sonne herum. Etliche flickten ihre Strohsandalen, mehrere rasierten einander, andere rauchten Zigaretten; die meisten taten gar nichts. Allenthalben hörte man Lärm und Lachen und rauhe Stimmen; über alle aber erhob sich diese eine Stimme. Ein Murmeln setzte ein, als die Leute Sheng gewahrten, doch der Sprecher behauptete seinen Platz. Sheng blieb stehen, um ihn zu betrachten. Er war ein vierschrötiger Bursche, dessen Tonfall verriet, daß er aus dem Norden stammte.
»Ihr seid nicht ungeduldiger als ich«, sagte Sheng ruhig.
»Ich bin ein kleiner Mensch, und Ihr seid ein großer«, gab der Mann zurück. »Wäre ich so groß wie Ihr, so würde ich nicht warten, großer Bruder.«
Sein braunes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und in seinen schwarzen Augen, die scharf und glänzend waren, mischten sich Ungeduld und Lachen.
»Ich bin nicht groß genug, um tun zu können, was mir beliebt«, entgegnete Sheng und ging weiter.
Aber wie konnte etwas die ruhelosen jungen Männer beschwichtigen? Sie begannen miteinander und mit den Stadtbewohnern zu streiten; sie betrachteten die Frauen allzu keck und brachen ihre Gelübde, und die Freudenmädchen erhöhten ihre Preise, und alle klagten Tag und Nacht. All dies wurde nicht durch die Nachrichten gebessert,
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