Das Geloebnis
Mutter eine kräftige, magere Frau ist und daß sie eine laute Stimme hat. Aber ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern. Es scheint mir, daß ich mich an nichts erinnern kann, was vor der Nacht liegt, wo wir aus dem Haus liefen und mit der fremden Frau Schutz suchten.«
Die Augen des jungen Mädchens schauten angespannt in die Ferne, als wollte es sein Gedächtnis zwingen, und da wußte Mayli, daß Pansiaos Gedächtnis tatsächlich mit jenem Augenblick abgerissen war. »Versuch nicht, dich zu erinnern«, riet sie freundlich. »Eines Tages wirst du sie alle wiedersehen, und dann fällt es dir wieder ein.«
»Vielleicht?«
Pansiao brach in ein plötzliches kindliches Lachen aus. »Natürlich fällt es mir dann wieder ein«, rief sie. Sie begann das Kleidungsstück wieder zu klopfen, so daß kleine Wassertropfen nach allen Seiten sprühten; sie glitzerten in ihren hübschen Brauen und hingen an ihren Wangen wie Tränen. »Aber mein dritter Bruder … du weißt, Lao San, der jetzt Sheng genannt wird … Jetzt erinnere ich mich so gut an ihn. Als Kind war er jähzornig, und wir gaben ihm alle nach. Auch ich fürchtete mich vor ihm, und doch … wenn wir auf den Hügeln waren, suchte er rote Weinbeeren für mich und gab sie mir. Er sagte immer zu mir, daß er eines Tages von daheim fortlaufen würde.«
Mayli schwenkte ihren blauen Rock durch das Wasser, um ihn auszuspülen. »Was wollte er dann tun?« fragte sie.
»Das hat er mir nie erzählt«, antwortete Pansiao lachend. »Ich glaube, daß er es selber nicht wußte. Er gab bloß vor, einen Plan zu haben, und hatte in Wirklichkeit gar keinen.«
»Das ist nur gut«, erklärte Mayli. »Denn jetzt müssen alle jungen Männer dasselbe tun – gegen den Feind kämpfen, bis er aus dem Land getrieben ist.«
»Ja«, sagte Pansiao fröhlich, und ihr Blick und ihre Stimme taten kund, daß sie den Krieg weder mit dem Gefühl noch mit dem Wissen erfaßte.
Denn dieses junge Mädchen hatte gelernt zu meiden, was es haßte und fürchtete, so den Krieg, dem es auswich, indem es willentlich nicht wußte, was ringsum vor sich ging. Frohgemut und voll Eifer tat Pansiao, was Mayli sie zu tun hieß. Sie half beim Kochen, wusch und flickte, und mit aller Zuverlässigkeit und Sorgfalt nahm sie sich der Kranken an. Bald liebten sie alle und lachten sie an, aber sowie der Krieg erwähnt wurde, legte sich Leere über ihr Antlitz wie Schlaf, und ihre Augen wichen aus.
Noch eine andere Eigenart hatte sie. Ihr schwebender Geist kannte den Unterschied zwischen Recht und Unrecht nicht mehr. Sah sie irgendeinen kleinen Gegenstand, der ihr gefiel, so nahm sie ihn an sich. Das entdeckte Mayli, als sie mit drei ihrer Getreuen und Pansiao durch die Straßen ging, um Garn und neue Baumwollsocken und dergleichen nützliche Sächelchen zu kaufen. Vor einem abseits gelegenen kleinen Laden machten sie halt, um sich Papierblumen fürs Haar anzuschauen – nicht um sie zu kaufen, denn wozu brauchten sie solchen Schmuck bei ihrem jetzigen Leben? Doch da sie Frauen waren, betrachteten sie ihn, und wirklich waren die Zierstücke sehr hübsch gemacht. Schmetterlinge saßen auf den Blumen, hergestellt aus Golddraht und blauen Eisvogelfedern. Nachdem sie den Schmuck genügend bewundert hatten, setzten sie ihren Weg fort. Im gleichen Augenblick hörten sie einen lauten Aufschrei hinter sich. Sie drehten sich um und sahen die Ladenbesitzerin hinter ihnen herlaufen und schreiend auf Pansiao deuten.
»Was gibt’s?« fragte Mayli die Frau. Wie aber sollte sie die Frau verstehen, die ihre Worte in ihrer eigenen Sprache hervorsprudelte? Nichtsdestoweniger zog und zerrte die Frau an Pansiao herum, riß an ihren Rockknöpfen, so daß sich alle herzudrängten, um dem Mädchen beizustehen. Aber gerade als die Frau einen der Knöpfe abriß, sah man aus der Tasche darunter zwei der Zierblumen hervorschauen.
»Pansiao!« rief Mayli entsetzt. »Was heißt das? Ich habe nicht gesehen, daß du die Blumen bezahlt hast.«
Pansiaos rote Lippen zitterten. »Aber ich habe ja kein Geld«, entgegnete sie mit weit geöffneten Augen. »Niemand hat mir jemals Geld gegeben!«
»Wie konntest du dann diese Blumen an dich nehmen und uns allen Schande bereiten?« warf Mayli ihr vor. Auch die drei Getreuen waren sehr ernst, denn der General hatte einen strengen Befehl an alle, Männer sowohl Frauen, erlassen, daß niemand etwas an sich nehmen dürfe, ohne dafür zu bezahlen, da sie sich in einer fremden Stadt aufhielten, deren
Weitere Kostenlose Bücher