Das Geloebnis
die Geburt ihres Kindes verzögerte sich, und dann war der Arzt versucht, die für die Soldaten bestimmten Sachen zu benutzen, um ein Menschenleben zu retten. Aber von dieser Versuchung wurde er befreit, denn niemand wollte sich operieren lassen.
»Ich soll es mir abschneiden lassen!« rief ein Mann, der ein völlig brandiges Bein hatte. »Ich komme her, um mich heilen zu lassen, nicht um mein Bein zu verlieren!« Und alle stimmten darin überein, daß sie nicht mit einem fehlenden Glied ins Grab gelegt werden wollten, denn wie sollten ihre Ahnen sie dann erkennen?
Mayli aber wurde von Chungs Unzufriedenheit angesteckt, weil die Schlacht nicht begann.
»Das ist nicht meine Arbeit«, sagte er jeden Tag düster, nachdem er entzündete Augen ausgewaschen und Geschwüre ausgedrückt hatte. »Das könnte ich auch daheim machen. Ich kam her, um am Krieg teilzunehmen.«
»Warum rücken wir denn nicht vor?« fragte Mayli verwundert.
»Ja, warum nicht?« fragte er kopfschüttelnd zurück.
Was Pao Chen anbetraf, so sprach er nicht, noch hörte er zu. Vom Morgen bis zum Abend saß er in seinem Zimmerchen, wo er einen Tisch und ein Bett hatte, und schrieb Beschwerden nieder, die er dem General, dem Präsidenten und dem Amerikaner sandte. Weil er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett saß, den Tisch zum Schreiben nahe herangezogen, nannten ihn die Soldaten den ›schreibenden Buddha‹.
Li Kuo-fan, genannt Charlie, aber war es, der eines Abends zu Mayli kam und sagte: »Morgen gehe ich fort, aber ich werde in ungefähr siebzehn Tagen zurück sein.«
»Und wenn wir vor Eurer Rückkehr aufbrechen?« fragte Mayli.
»Da besteht keine Gefahr«, entgegnete er grimmig. »Mir scheint, wir stecken hier fest wie Kamele in einem Schneesturm.«
Seit Mayli neben Charlie im großen Auto über die Berge gefahren war, hatten die beiden eine Art rauher Freundschaft bewahrt; alle zwei bis drei Tage war er erschienen und hatte sich neben ihr niedergelassen, während sie fortfuhr, sich ihrer jeweiligen Beschäftigung zu widmen.
»Wohin geht Ihr denn?« erkundigte sie sich jetzt.
Er höhlte die Hände vor dem Mund und flüsterte hindurch: »Man schickt mich aus.«
Mayli zog die Brauen empor.
»Der General ist des Wartens müde«, raunte er weiter. »Gestern hat er fünfzig Leute bestimmt, die sehen sollen, was es zu sehen gibt.«
Plötzlich stieg Röte in sein Gesicht, und unvermittelt sprach er englisch. »Geben Sie acht auf Ihre kleine Schwester.«
»Meine kleine Schwester?« wiederholte Mayli erstaunt. Dann sah sie, daß seine Augen zu Pansiao hinüberschweiften, die nähend auf einer Bank saß, und sie verzog ein wenig das Gesicht. »Deshalb kommen Sie also immer her!« bemerkte sie spitz. »Und ich dachte, es sei meinetwegen.«
»Das würde ich gar nicht wagen«, versetzte er offen. »Sie sind eine Dame, und was habe ich, ein Sohn gewöhnlicher Leute, mit Damen zu tun?«
Darauf trat sie mit dem rechten Fuß den Bodenstaub gegen ihn und schüttelte die Schürze, die sie trug, und er ging lachend fort. Nachdem er sich entfernt hatte, dachte sie über seine Worte nach, und da erkannte sie, daß er wegzog, weil auch er ruhelos war. Gedankenvoll stand sie da, und ihre Augen fielen auf Pansiao, die, als ob sie den Blick fühlte, ihre langwimprigen Lider hob und errötete.
»Sprichst du mit Charlie, wenn er hierherkommt?« fragte Mayli sie.
»Manchmal spreche ich mit ihm«, erwiderte Pansiao und errötete noch tiefer.
»Aha!« stieß Mayli leise hervor. Sie ging zu Pansiao hinüber, gab ihr einen Klaps auf die eine Wange, dann auf die andere und lachte sie an.
»Er sieht meinem dritten Bruder ein wenig ähnlich«, flüsterte Pansiao, wie um ihre Worte zu rechtfertigen.
Mayli stand regungslos und schaute auf das junge flehende Gesicht nieder. »Nein, das stimmt nicht«, gab sie rasch zurück. »Er gleicht ihm überhaupt nicht. Sheng sieht viel besser aus als Charlie.«
»Wirklich?« murmelte Pansiao. »Dann habe ich ihn ebenfalls vergessen.« Und sie seufzte. Aber Mayli zwickte nur sanft Pansiaos Näschen und lachte abermals.
Siebzehn Tage später kroch Charlie Li auf die Grenze zu, wo ein englischer Posten Wache stand. Diesen Mann zu täuschen war leicht genug. Kein Engländer – das hatte er während der siebzehn Tage herausgefunden – vermochte Chinesen, Burmesen und Japaner zu unterscheiden, wenn sie die gleiche Kleidung trugen. Engländer hatten ihn gebeten, die Schuhe auszuziehen, damit sie seine Füße sehen
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