Das Geloebnis
Zeit dauern, große Brüder«, hatte er kichernd gesagt. »Der General hat Besuch von einer Schönheit.«
Und als sie dann erschien, war es Mayli gewesen! Er selbst war am nächsten Morgen mit seinen Soldaten aufgebrochen, und er hatte nicht die Absicht gehabt, sie aufzusuchen und ihr eine Frage zu stellen. Ein Mann, der in die Schlacht zog, durfte eine Frau nichts fragen.
Jetzt hörte das Mädchen auf zu sprechen; statt dessen begann es mit hoher und süßer Stimme ein fremdländisches Lied zu singen. Außer durch Rundfunkempfänger in Städten hatte Sheng nie fremdländische Musik vernommen. Aber neben ihm saß Charlie, und er wußte, daß Charlie alle fremdartigen Dinge verstand.
So lehnte er sich zu ihm hinüber und fragte: »Was singt sie?«
»Ein Lied, das sie in einer Schule gelernt hat«, erwiderte Charlie. Er übersetzte die Worte nach einem Augenblick: »Trink mir mit deinen Augen zu …«
»Trink mir mit deinen Augen zu«, wiederholte Sheng verwundert. »Was heißt das?«
»Das heißt: wenn eine Frau einen mit ihren Augen anschaut, so braucht man keinen Wein«, erläuterte Charlie.
Sheng schwieg. Er lauschte den fremdartigen Worten und der klaren, hohen Stimme. Die Melodie war ihm eine Qual. Sie bohrte sich in ihn und ließ ihn erbeben. »Es ist wahr«, dachte er, sich Maylis erinnernd, »als ich in ihre Augen blickte, war es, als tränke ich Wein. Ich fühlte meine Adern heiß werden.«
Er stand auf, als das Mädchen aufhörte zu singen.
»Wohin?« fragte Charlie.
»Ich habe zu tun«, entgegnete Sheng kurz. Er bahnte sich seinen Weg durch die Soldaten, die auf der Erde saßen und lagen, während sie den Vorführungen folgten. Er verließ den Kreis; unter einem kleinen Baum breitete er die Decke aus, die er mit sich trug, und wickelte sich vollständig hinein. Da lag er und ertrug gleichmütig seine innere Einsamkeit.
13
Er wurde dadurch geweckt, daß jemand über ihn stolperte. Ehe er aufstehen konnte, fiel ein zweiter über ihn und dann ein dritter. Mit einem Stöhnen setzte er sich auf.
»Du große Schildkröte!« fluchte er, streckte den Arm aus und packte ein Bein. Der Mann fiel auf ihn; eine Weile rangen sie miteinander, dann gelangten sie gleichzeitig auf die Füße.
»Gute Mutter!« rief der Mann. Sie starrten einander an.
»Ihr, ein Offizier!« schrie der Mann, als er Shengs Abzeichen auf der Achselklappe gewahrte. »Da schlaft Ihr, und der Befehl ist ergangen, augenblicklich zu marschieren! Unsere Verbündeten sind in einer Falle, Schlafmütze! Wo sind Eure Leute?«
Shengs Unterkiefer klappte hinunter; mit beiden Händen rieb er sich das Gesicht. Dann hob er ohne ein weiteres Wort die Ellenbogen, schuf sich so einen Sturmbock und bahnte sich den Weg durch die laufende Menschenmenge.
Wie lange hatte er geschlafen? Sicher nicht länger als eine Stunde. Der Himmel glänzte von Sternen, und die Stille der Nacht war tief über dem Tal. In den Ohren schien er noch immer den Widerhall von Musik zu vernehmen.
»Ich bin ein Ochse«, dachte er beschämt. »Wie konnte ich nur einschlafen?«
Er gewahrte einen seiner eigenen Leute und rannte zu ihm.
»He, Krebschen!« rief er.
Dieser Mann wurde Krebschen genannt, weil er noch einen Bruder hatte und weil er eine Kampfeswunde davongetragen hatte, durch die sein linkes Bein verkürzt worden war, so daß es aussah, als ginge er seitlich.
»Was bedeutet all der Lärm?« forschte Sheng. Er zog Krebschen beiseite. Sie verließen die andern und machten einen Umweg zu ihrem Zelt, der gleichwohl kürzer war, weil er nicht durch die Menge führte.
»Wie soll ich das wissen?« gab Krebschen zurück. »Ich bin nur ein kleiner Soldat, und niemand erzählt mir etwas. Aber als die Mädchen ein Stück spielten – es handelte von einer Studentin, die gefangen worden war und die sechs Feinde umbrachte, und zwar mit Gift, das auf ihren Lippen war, bevor man dahinterkam –, mitten in diese Vorstellung also platzte ein Bote vom General, der mitteilte, daß wir binnen einer Stunde losmarschieren sollen, denn die Weißen sind südwärts, jenseits des Flusses, in eine Klemme geraten, und dort stecken sie, alle miteinander, Vorhut und Nachhut und Hauptmacht, und die Zwergteufel greifen sie von allen Seiten an. Die Weißen haben keine Nahrungsmittel und kein Wasser, und wenn wir nicht beizeiten zu ihnen stoßen, verrecken sie wie Tiere.«
Shengs Antwort auf diese Erklärung bestand darin, daß er vorwärts rannte und Krebschen hinter sich herhinken ließ.
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