Das Gelübde einer Sterbenden
bisheriges Dasein hatte er in Kerkern verbracht und so war es ihm nie zum Bewußsein gekommen, daß er für ein freies Leben geschaffen war. Jetzt zog eine solche Ruhe in sein Herz ein, daß er einer ungeahnten Hoffnungsfreudigkeit Raum gab.
An den Tagen der Langenweile, wenn sich in Le Mesnil-Rouge kein Besuch sehen ließ, gehörte Jeanne ihm.
Zwischen den Beiden war allmählich eine größere Vertraulichkeit entstanden. Das junge Mädchen nämlich sehnte sich schon in den ersten Tagen nach den Inseln hinüber. Sie beschäftigten ihre Phantasie und für ihr Leben gern hätte sie gewußt, was hinter jenen dichten Laubwänden vorging.
Aber der Onkel war ein viel zu steifer Herr, als daß er sich zwischen Dornengestrüpp hätte herumbewegen mögen, und der Tante graute vor den Gebüschen da drüben im Wasser, in denen es gewiß von Schlangen und anderm abscheulichen Getier wimmelte.
Unter diesen Umständen erschien ihr Daniel als ein braver Mann, der ihr einen großen Gefallen erweisen könnte. Sie sah ihn ja Tag für Tag in den Kahn steigen, um in das Dunkel der Laubgewölbe hinüber zu rudern, und so bat sie ihn denn eines Tages ihn begleiten zu dürfen. Dies that sie in aller Unschuld, bloß um ihre Neugierde befriedigen zu können, ohne einen Augenblick daran zu denken, daß Daniel ein Mann war.
Bei ihm dagegen erregte ihre Bitte einen starken Gemütsaufruhr. Aber diese Unruhe deutete er sich als Freude, und so kam es, daß Jeanne ihn von nun an oft auf seinen Spaziergängen und Wasserfahrten begleitete.
Frau Tellier, für die Daniel nur ein Bedienter war, fand nichts Böses darin, daß Jeanne sich von ihm spazieren fahren ließ. Sie wunderte sich bloß, daß Jeanne so ordinär war, sich drüben auf den Inseln Ihre Unterröcke schmutzig zu machen. Was aber den Abgeordneten betraf, so hatte er großen Respekt vor seinem Sekretär.
Die Beiden überließen sich dem neuen Vergnügen rückhaltslos und ohne an die Folgen zu denken. Sie brachen gewöhnlich gegen Abend auf, etwa eine Stunde vor der Dämmerung. Sobald sie in einen der Flußarme eingefahren waren, hob Daniel die Ruder in die Höhe und ließ den Kahn langsam stromabwärts treiben. Gesprochen wurde nicht. Jeanne lag halb rückwärts gelehnt und träumte oder hörte auf das leise Gemurmel des Wassers, in das sie ihre Fingerspitzen tauchte. So fuhren sie in dem grünen Dämmerlicht der stillen Laubdome dahin. Dann landeten sie auf einer Insel, wo sie vergnügt wie Kinder umherrannten und lärmten. Entdeckten sie eine Lichtung im Gestrüpp, so wurde Halt gemacht, um Atem zu schöpfen und kameradschaftlich zu plauschen. Bei diesen Streifereien setzte sich Daniel niemals hin, sondern blieb immer stehen, wenn seine Begleiterin sich niederließ, um auszuruhen. Er hatte sich im Klettern geübt und holte oft Nester herunter. Wenn aber Jeanne Mitleid über die armen Vögelchen kund gab, stieg er wieder auf den Baum und brachte sie auf den höchsten Zweigen in Sicherheit.
Besonders angenehm war immer die Rückkehr. Sie hielten sich so lange wie möglich unter den Laubgewölben auf, wo es inzwischen dunkel geworden war. Die Kühle wurde durchdringend, die Weidenzweige rauschten, indem sie ihre Kleider streiften. Der Fluß glich einem brünirten Stahlspiegel.
Endlich, wenn er die Fahrt nicht noch mehr in die Länge ziehen konnte, bequemte sich Daniel dazu, über die Inseln hinaus zu rudern. Dann sahen sie die Silberfluten der Seine vor sich ausgebreitet. Hier herrschte noch das Tageslicht, ein mattes, schwermütig zartes Licht. Jeanne saß hinten im Kahn und ließ den Blick über die Wasserfläche hingleiten. Der Fluß kam ihr wie ein zweiter Himmel vor, in dem die Bäume mit schärfer umrissenem Schatten eintauchten. Ein erhabner Friede waltete über dem Gefilde; in die tiefe Stille klang, man wußte nicht woher, ein gedämpfter Gesang; der ferne Horizont erweiterte sich, leicht und schwebend wie eine Vision, die sich im Dunkel verflüchtigte.
Das ruhige Leben fand bald in Daniels Gemüt einen Widerhall. Der Friede kehrte auch bei ihm ein und er sah ein, daß er zum Moralprediger nicht taugte, daß er weiter nichts verstand, als Liebe zu empfinden. Erinnerte er sich jetzt des verwünschten Winters, wo er eine so lächerliche Rolle gespielt hatte, so ergriff ihn eine wahre Beklemmung. Wie glücklich war er doch, seitdem er sich der Zuneigung, die er für Jeanne hegte, voller Hoffnungsfreudigkeit und Seelenruhe hingegeben hatte!
So kam es, daß er weder an die
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