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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schauten mich an, hörten zu, wie ich meine Gebete sprach.«
    »Was haben Ihre Eltern dazu gesagt, daß Sie sich nachts dort draußen herumtrieben?«
    »Sie wußten nichts davon. Damit mir das Wachwerden mitten in der Nacht leichter fiel, schlief ich mit dem Kopf auf einem harten Stein statt auf einem Kissen. Manchmal band ich Stricke mit vielen Knoten um meinen Körper. Und draußen kniete ich mich im Sommer in Brennesseln und im Winter in den Schnee, so daß ich unter freiem Himmel nicht einschlief.«
    »Wie alt waren Sie da?«
    »Fünf oder sechs, als ich damit anfing. Das erschreckt Sie, nicht wahr?«
    »Ein wenig.«
    »Ein wenig«, ahmte sie mich lächelnd nach. »Von wegen. Ich sehe Ihnen doch an, daß Ihnen bei dem Gedanken ganz unwohl zumute wird.«
    »Ich gestehe, daß…«
    »Sie müssen mir gar nichts gestehen«, fiel sie mir sanft ins Wort »Ich bin diejenige, die hier die Geständnisse macht.
    Deshalb hat Gott Sie zu mir gesandt, deshalb habe ich Sie in meiner Vision gesehen. Sie sind hier, um mir zuzuhören.«
    Vorsichtig versuchte sie, sich in eine andere Lage zu bringen.
    Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz.
    Ich sprang auf und beugte mich eilig zu ihr vor. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Es geht schon, danke.« Nachdem sie sich wieder entspannt hatte, fuhr sie fort: »Wußten Sie, daß ich als Kind die Geister Verstorbener gesehen habe? Hat Ihr Bruder Ihnen das erzählt?«
    »Ich glaube, er wußte ziemlich genau, warum er es nicht getan hat.«
    »Sie wären sonst nicht hergekommen, nicht wahr?« Sie lachte wieder und sah dabei trotzdem todtraurig aus. Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, daß jeder hier mich besser kannte als ich mich selbst.
    »Ich bete oft für die armen Seelen im Fegefeuer«, erzählte sie, »das habe ich schon als Kind getan. Früher sind sie mir zum Dank dafür oft erschienen. Auf dem Weg zur Frühmesse, in der Dunkelheit über den Feldern, tanzten sie als kleine Feuer am Himmel, manchmal auch als glitzernde Perlen inmitten einer trüben Flamme. Sie erzählten mir von ihren Qualen, sie weinten und jammerten, und eines Tages bat ich meinen Schutzengel, mich zu ihnen zu führen.«
    »Ins Fegefeuer?«
    Sie lächelte milde. »Ich weiß, daß Sie mir kein Wort glauben.
    Aber, ja, mein Engel führte mich ins Fegefeuer, und ich sah die Abgründe des Leids, in denen die Sünder und Ungläubigen dahinvegetieren. Vielleicht ist das der Grund, warum alle anderen mein Dasein für so unerträglich halten, ich selbst mich aber längst damit abgefunden habe – ich habe Schlimmeres gesehen als ein Leben im Bett.«
    »Ich kann nicht glauben, daß Sie sich wirklich damit abgefunden haben.«
    »Ich hatte nie eine andere Wahl. Ich bin in Sicherheit, solange ich mir Gottes Gnade verdiene.« Sie zögerte.
    »Allerdings weiß ich nicht, was geschieht, wenn meine Befürchtungen wahr sind, wenn Gott mich wirklich für meine Begegnungen mit Maria bestrafen will.« Sie sprach sehr ernst, beinahe sachlich, obwohl ich ihr ansehen konnte, welche Ängste sie unter der Maske ihres Glaubens empfand.
    »Es gab eine Zeit«, fuhr sie betreten fort, »in der Gott mich verlassen hat. Das waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens. Er erlegte mir Prüfungen auf, Sühneleiden für die Fehltritte anderer, aber auch für meine eigenen. Ich verbrachte halbe Nächte mit dem Lesen frommer Schriften und betete während der restlichen Hälfte den Rosenkranz. Mehr als einmal erschreckte der Herr mich in der Nacht mit scheußlichen Erscheinungen, ja, sogar den Widersacher selbst führte er in meine Kammer.«
    »Der Teufel ist Ihnen erschienen?«
    »Er kam über mich, in einer Winternacht, als ich bei offenem Fenster eingeschlafen war, trotz des Schneesturms, der draußen tobte. Ich hatte gehofft, die Kälte würde mich wachhalten, aber ich schlief dennoch ein. Gott erkannte meine Verfehlung und entzog mir seinen Schutz. So kam es, daß der Widersacher mühelos den Weg zu mir fand.«
    »Was genau ist geschehen?«
    Sie wandte das Gesicht ab, Tränen standen plötzlich in ihren Augen. »Er kam allein, in der Gestalt eines großen dunklen Mannes, der durchs Fenster in meine Kammer stieg. Ich erwachte von seinen Berührungen. Er war so kalt wie der Winter selbst, als wären seine Finger aus Eis gegossen. Schnee fiel von seinen Schultern auf mich herab, als er sich über mich beugte. Seine Hände zerrten meine Decke zur Seite, zerrissen mein Hemd…« Sie brach ab, aber es waren nicht die Tränen, die ihre Worte

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