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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erstickten, sondern ihre Scham und die absurde Gewißheit, ihr Schicksal verdient zu haben.
    »Kam Ihnen denn niemand zu Hilfe?« fragte ich schockiert.
    »Hat keiner Ihre Schreie gehört?«
    Sie schaute mich lange an, so unsagbar traurig. »Ich habe nicht geschrien. Ich lag ganz still, ohne mich zu bewegen, ohne einen Laut. Ich wußte, der Herr ließ mich Buße tun, er hatte mir diese Strafe auferlegt, und ich mußte sie erdulden, um ihn nicht noch mehr gegen mich aufzubringen. Ich erlitt die Martern des Widersachers, und ich war dankbar für die Gnade, die der Herr mir angedeihen ließ, denn nun kannte ich die Schrecken desjenigen, gegen den der Allmächtige mich ins Felde fuhrt.«
    Ich rang um meine Fassung. »Ist so etwas später noch einmal passiert?«
    »Nein, niemals. Ich betete noch häufiger, noch inbrünstiger, und richtete all meine Liebe auf den Herrn, unseren Gott.
    Seither war er stets für mich da, hat mich beschützt und mir gestattet, mein Leben in seinen Dienst zu stellen und ihm zu opfern.« Immerhin, sie nannte es ein Opfer. Tief in ihr mochte also immer noch etwas das Versäumte bedauern. Dieser Teil von ihr war es also, den sie so sehr fürchtete. Ihm gab sie die Schuld an ihren Marienvisionen, von ihm glaubte sie, daß er erneut Gottes Strafe auf sie ziehen würde.
    »Die Wunden sind nur der Anfang«, sagte sie leise. »Es ist alles genauso wie damals.«
    »Was ist genauso wie damals?« Am liebsten hätte ich sie an den schmalen Schultern gepackt und geschüttelt, um ihr diesen Unsinn auszutreiben. »War in der letzten Nacht jemand hier?«
    Ich deutete mit einer unsicheren Geste zum Fenster. »Ist jemand dort hereingestiegen?«
    »Nein.« Nur ein Flüstern. »Niemand war hier. Aber ich weiß, daß jemand kommen wird. Damals war es genauso. Erst erhielt ich die Wunden der Dornenkrone, und bald darauf besuchte mich der Widersacher.« In diesem Moment hörte ich sie zum ersten Mal schreien. Sie war aufgebracht und voller Panik: »Er kommt hierher! Zu mir, verstehen Sie? Und niemand wird ihn zurückhalten können, wenn ich nicht aufhöre, in meinen Visionen die Mutter Gottes zu sehen und mit ihr Dinge zu treiben, die es in meinem Kopf gar nicht geben dürfte.« Sie schloß die Augen, und ich fragte mich, was sie im Dunkel hinter ihren Lidern sah. »Wie kann ich denn meine eigenen Gedanken bezwingen? Wie kann ich wieder Herr meiner selbst werden?«
    Ich ergriff ihre bandagierten Hände, ganz zaghaft, um die Wunden nicht zu berühren. Sie zuckte vor Schmerz zusammen, zog die Finger aber nicht zurück.
    »Sie können es nicht beeinflussen, oder?« fragte ich. »Diese Ekstasen überkommen Sie einfach?«
    Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, mit dem Kopf zu nicken. Ihre Arme fielen zurück auf die Bettdecke, und eine Woge der Pein raste durch ihren Körper, ließ sie sich aufbäumen und wieder zurück in die Kissen sinken.
    Ich war so machtlos wie ein Kind, dem man aufträgt, es möge einen Berg versetzen. Und ist es nicht der Glaube, dem man nachsagt, er könne Berge versetzen? Alles Lüge! Annas Glaube war der Berg!
    »Haben Sie mit dem Abbé darüber geredet?« fragte ich vorsichtig, nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch ansprechbar war.
    »Mit niemandem«, sagte sie kraftlos, »nur mit Ihnen.«
    Ihr Dilemma war verzwickt. Mit ihren geistlichen Beschützern konnte sie unmöglich über ihre Ängste sprechen, denn dann hätte sie ihnen gestehen müssen, daß sie in ihren Visionen mehr sah als nur eine reine, tugendhafte Maria. Von mir, einem Ungläubigen, hatte sie sich mehr Verständnis erhofft, doch auch ich hatte sie enttäuscht. Zwar verstand ich die fleischliche Natur ihrer Ekstasen, doch um Annas Furcht vor einer göttlichen Strafe nachvollziehen zu können, fehlte mir der Glaube an Gott.
    Während ich noch nach den richtigen Worten suchte, irgend etwas, um ihr Mut zu machen, sagte sie plötzlich: »Manchmal kann ich hören, wie er näher kommt.«
    »Der Mann?« fragte ich irritiert. »Sie hören den Mann am Fenster?«
    Sie versuchte vergeblich den Kopf zu schütteln. »Nicht den Mann«, brachte sie keuchend hervor. »Damit wird er sich nicht mehr zufriedengeben. Diesmal ist es etwas anderes. Es hat schon die Heilige Jungfrau verfolgt, und jetzt verfolgt es mich!«
    »Was denn nur, in Teufels Namen?«
    Ihre Augen waren fest auf das Fenster gerichtet. Vielleicht wünschte sie sich einmal mehr, den Kirchturm zu sehen; gewiß hätte ihr der Anblick Trost gespendet. Sonnenstrahlen fielen

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