Das Gelübde
lächelte nur geschmeichelt.
»Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet«, erinnerte ich ihn. »Wie kam es schließlich zum Marienkult, wie wir ihn kennen?«
»Ich bin Priester, und ich fürchte, ich müßte Ihnen jetzt eigentlich eine lange Predigt halten.«
»Wie wär’s statt dessen mit der Wahrheit?«
Wieder kicherte er. »Ach, die Wahrheit! Die ist so spröde und, verzeihen Sie, unromantisch. Vielleicht wissen Sie ja, daß schon unsere heidnischen Ururgroßväter eine Art Muttergottheit angebetet haben, die Welt in Gestalt einer Frau, die die Menschheit aus ihrem Schoß gebiert. Das ist ein uraltes Bild, und eines, auf das auch die christlichen Missionare stießen, als sie ausschwärmten und durch die Wälder der Barbaren zogen. Sie erkannten schnell, daß sie die heidnischen Stämme nur durch eine List für die neue Religion gewinnen konnten. Wenn ich mich recht erinnere, war es im vierten oder fünften Jahrhundert, als man beschloß, den uralten Mutterkult der Heiden in neuer Form der christlichen Lehre einzuverleiben. Die nahezu in Vergessenheit geratene Jungfrau Maria wurde abgestaubt und flugs ans Licht gezaubert, als eine Art Zugeständnis an die Angehörigen des alten Glaubens. Eine Rechnung, die, wie wir wissen, bald schon aufging: Heidnische Rituale wurden nahezu unverändert von der christlichen Kirche übernommen und ohne viel Aufhebens auf Maria übertragen.«
»Dann schlüpfte Maria sozusagen in die Rolle der alten Muttergottheit?«
»So ist es. Die Verfasser der apokryphen Evangelien – das sind volkstümliche Schriften, die zwar nie in die Bibel aufgenommen wurden, vielen Christen aber als ebenso wertvoll erscheinen – machten es sich zur Aufgabe, das Marienbild auszuschmücken. Bei ihnen war auch zum ersten Mal vom Wunder der jungfräulichen Zeugung die Rede.«
»Wie bei Hera, der Gattin des Zeus«, sagte ich nachdenklich und recht froh darüber, irgend etwas zu dem Gespräch beitragen zu können. »Auch ihr hat man nachgesagt, daß sie die Kraft besäße, jedesmal, wenn ihr Mann ihr beigelegen hatte, ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen.«
»Gewiß eine Fähigkeit, um die sie manch unglückliches Töchterlein beneiden würde, nicht wahr, mein Freund?« Der Abbé stieß ein gackerndes Lachen aus. »Auf jeden Fall besaß Maria im fünften Jahrhundert einen festen Platz in der Liturgie.
Feste zu ihren Ehren wurden eingeführt, ebenso Gebete, in denen sie um Beistand angefleht wurde. Man weihte ihr die ersten Kirchen und gestattete, ihre Abbilder zu küssen.«
Ich horchte auf. »Es ist erlaubt, ein Bild der Mutter Gottes zu küssen?« fragte ich zweifelnd. »Ist das Ihr Ernst?«
»Aber ja doch! In den südlichen Ländern ist das gang und gäbe. Reisen Sie nach Italien, mein Freund, und Sie werden erleben, daß die Gläubigen den Marienstatuen die Füße, Hände und sogar den Mund küssen. Und niemand nimmt Anstoß daran.«
»Aber verstößt das nicht gegen die Gesetze der Keuschheit?«
fragte ich verwundert.
»Die Jungfrau Maria gilt als tugendhaft und rein, ohne jede Einschränkung. Sie ist, so will es die Kirche, nie durch einen einzigen unzüchtigen Gedanken befleckt worden. Sie allein darf bedenkenlos einen Kuß empfangen, ohne daß er als etwas anderes als eine Ehrenbezeugung angesehen werden könnte.«
Bald darauf nahm ich Abschied vom Abbé.
Während der folgenden Stunden ließ mich ein Gedanke nicht mehr los: War es möglich, daß ich mich derart von Anna angezogen fühlte, daß ich sie in meinen Träumen mit der Jungfrau Maria gleichsetzte? War es in Wirklichkeit Anna selbst, die ich begehrte?
Ich fand keine aufrichtige Antwort auf diese Frage, und vielleicht wollte ich das auch gar nicht. Ich verdrängte sie, so wie ich die Erlebnisse der Nacht verdrängt hatte. Mein Leben lang hatte ich alles Unliebsame weit von mir geschoben: den Tod meiner geliebten Sophie, die Trennung von Auguste, die Tatsache, daß meine eigenen Geschwister in mir nichts als einen Versager sahen, den ewig Unterlegenen. Überdies hatten meine Dichtungen, abgesehen von ein paar glücklichen Ausnahmen, wenig Resonanz erfahren, und seit Monaten schon fühlte ich mich ganz und gar unfähig, irgend etwas von Wert zu Papier zu bringen.
Doch all das überspielte ich vor der Welt und besonders vor mir selbst. Nichts ist wahr, das ich nicht wahrhaben will! Ich ging nicht so weit, dies zur allgemeinen Philosophie zu erheben, doch auf mich traf es ohne Zweifel zu. Nichts ist wirklich, das nicht
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