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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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wirklich sein soll!
    Nichts ist wirklich!

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    16
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    Anna spuckte Blut, spie es in braunroten Fäden über das weiße Laken. Ich tupfte ihr mit einem feuchten Tuch über den Mund und bestaunte in einer absurden Anwandlung das ungewohnte Rot ihrer Lippen.
    »Es ist nichts«, brachte sie stockend hervor und atmete ein paarmal tief durch. »Das passiert manchmal. Ziemlich oft sogar. Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist völlig normal.«
    »Völlig normal, hm?« Nachdem ich ihr Gesicht und ihren Hals gereinigt hatte, versuchte ich, das Blut von der Decke zu reiben, doch statt dessen schmierte ich die Flecken nur noch breiter. »Ich rufe am besten Ihre Schwester.« Damit wollte ich zur Tür gehen.
    »Nein!« fuhr sie auf. »Tun Sie das nicht! Sie mußte schon heute morgen das Laken wechseln.«
    »Dann wird sie es eben ein zweites Mal tun.«
    »Nein, bitte! Sie verabscheut mich auch so schon genug. Ich will es ihr nicht noch schwerer machen als nötig.«
    »Es ihr schwerer machen?« rief ich gereizt. »Liebe Güte, Anna! Gertrud wird vom Abbé dafür bezahlt, daß sie Ihnen hilft!«
    Plötzlich stand eine einzelne Träne in ihrem rechten Augen.
    »Aber es geht mir doch gut. Es… es war nur wegen des Hahnenschreis.«
    »Wie meinen Sie das?« fragte ich und trat zurück an den Rand ihrer Korbkrippe.
    »Lassen Sie nur«, sagte sie schwach. »Mir fehlt nichts.«
    »Erklären Sie mir, was Sie damit gemeint haben.«
    »Nur, daß Sie Gertrud in Ruhe lassen sollen.«

    »Unfug!« entgegnete ich wütend. »Sie haben wieder von diesem Hahnenschrei gesprochen.«
    Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und rieb die Träne auf ihrer Wange am Kissen ab. »Ich muß manchmal Blut spucken, wenn ich ihn höre.« Nun klang sie fast trotzig. »Sind Sie jetzt zufrieden?«
    Es war zum Haareraufen. »Anna, es ist heller Nachmittag, da schreien keine Hähne. Und selbst wenn, würde es nicht das geringste bedeuten. Ein Hahn ist ein Hahn und kein Drache!«
    Krähen Hähne wirklich nur am Morgen, wie man es ihnen gemeinhin nachsagt? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Es war einfach das erstbeste Argument, das mir einfiel.
    »Ich dachte, Sie glauben mir«, sagte sie traurig.
    Ich ließ mich wieder auf dem Hocker nieder und streichelte sachte ihren Arm. »Ich glaube an Ihre Erscheinungen, Anna.
    Das ist ein schöner Fortschritt, oder?« Ich rang mir ein aufmunterndes Lächeln ab, doch es wollte nicht auf sie überspringen. »Was aber den Drachen angeht, den mit den sieben Köpfen… Ich bin nicht so sicher, ob…«
    »Ich höre ihn, und wenn Sie nur einmal den Versuch machen würden, würde es Ihnen genauso gehen.«
    »Und wenn schon. Dann ist es eben ein Hahn irgendwo in der Nachbarschaft. Ich meine, wir sind hier auf dem Land!«
    Sie schüttelte den Kopf, viel zu heftig, als daß es ihr keine Schmerzen bereitet hätte. Sie erduldete die Qual ohne Murren, allein um mich zu überzeugen. »Es gibt in der Nähe keine Hähne. Weiter draußen, am Stadtrand, aber nicht hier. Pater Limberg hat Erkundigungen eingezogen, die…«
    »Pater Limberg«, unterbrach ich sie heftig, »ist ein geistloser Fanatiker! Würden Sie ihm erzählen, daß die Menschen in der Nachbarschaft siebenköpfige Drachen auf ihren Hinterhöfen züchten, würde er Ihnen auch das bestätigen. Deshalb ist er Priester geworden. Er verkündet den Menschen das, was sie hören wollen.«
    »Sie sind ungerecht.«
    »Ich sehe nur deutlich, was hier geschieht. Dieser Pater bringt sie vollkommen durcheinander.«
    »Was für ein Zufall, daß er das gleiche von Ihnen behauptet«, konterte sie lakonisch.
    Ich wich ihrem Blick aus und versuchte einen Moment lang, mich zu sammeln. »Lassen Sie uns damit aufhören, bitte.«
    Tatsächlich reifte ein Plan in meinem Kopf heran, mit dessen Hilfe es mir gelingen mochte, Limberg das Handwerk zu legen. Ich wußte es besser, als Anna dafür um Erlaubnis zu bitten. »Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«
    »Sicher.« Ihre Züge entspannten sich, wurden weich, beinahe liebevoll. »Ich mag Sie sehr, und ich will nicht, daß Ihr Haß auf Limberg unserer Freundschaft im Wege steht.« Dann sagte sie, ganz ohne Übergang: »Ich möchte Ihnen mehr über die Visionen erzählen. Ich möchte Ihnen gerne alles erzählen.«
    Ich beobachtete sie, versuchte, sie ganz neu zu entdecken, ohne die Vorbehalte, die ich bei unserer ersten Begegnung gehabt hatte. Das sollten wir öfters tun, dachte ich, Menschen, die wir zu kennen glauben, noch einmal so
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