Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Erniedrigung, doch zugleich fühlte ich mich ihr so nahe wie an keinem Tag zuvor. Ihr leichter, stoßweiser Atem zwischen den Sätzen, ihr Herzschlag in der flachen Mädchenbrust, das sanfte Beben ihrer Stimme! Ehe ich mich versah, war ich bereits ihr Gefangener. Nur ein paar Minuten, nur diese eine geteilte Vertraulichkeit, und alles zwischen uns war anders geworden, verändert, neugeschaffen.
    Ich schaute sie an, wartete darauf, daß sie fortfahren würde, nicht sicher, ob es überhaupt noch etwas gab, was sie mir mitteilen konnte. Wartete vergebens, bis sie mich bat, zu gehen und erst am nächsten Tag zurückzukommen, um vielleicht, nur vielleicht, noch mehr zu hören. Ich wußte, ich würde kommen, und das Versprechen, das ich mir gab, gab ich auch ihr, nur in Gedanken, und doch in der Gewißheit, daß sie es hörte, weil sie es hören wollte.

----

    14
----

    Da waren Drachen am Horizont, Drachen hoch über den Dächern. Nicht mit sieben Köpfen, nicht einmal mit einem, sondern nur aus schwarzem, flatterndem Papier. Ein paar Kinder ließen sie draußen auf den Feldern steigen, große, majestätische Dreiecke, die wie Rochen auf den Winden schwebten. Der Herbsthimmel war wolkenverhangen, wirkte vollkommen unbewegt, obwohl hier unten immer noch Sturmböen durch die Gassen jagten und das Laubmeer zum Beben brachten.
    Ich kehrte auf dem schnellsten Weg zurück zum Gasthof, fand auf Anhieb die richtigen Ecken und Abzweigungen, während meine Gedanken ganz woanders weilten.
    Ein Gespenst verfolgte mich, die Vorstellung einer jungen Frau, die ihre schwarzen Gewänder abstreift. Vielleicht, weil ich dieses Bild als Fortführung meines eigenen Traumes wiedererkannte, vielleicht auch nur, weil es etwas in mir ansprach, was es in den meisten Männern angesprochen hätte.
    Frauen waren mir nicht fremd – wie oft hatte mein Bruder mich wegen meiner Leichtlebigkeit gerügt –, und ich kannte das Gefühl gut, sie zu berühren, kannte ihre Gerüche, ihren warmen, ein wenig eisernen Geschmack, der so lange auf der Zunge knistert. Und doch webte die Vorstellung dieser einen, ganz besonderen Frau ein Gespinst wahnwitziger Sehnsüchte um meinen Verstand. Ich empfand, was auch Anna in all ihrer Unschuld empfunden hatte – so eindringlich, so ansteckend war ihre rauschhafte Schilderung gewesen.
    In meiner Kammer angekommen, verriegelte ich hinter mir die Tür. Ich warf kaltes Wasser aus der Waschschüssel in mein Gesicht, und als das nichts half, steckte ich den ganzen Kopf hinein. Um mich herum erstarben alle Geräusche, als das Wasser meine Ohren versiegelte. Ich hielt die Luft an, öffnete meine Augen und blickte träumend in die Dunkelheit des Wasserbottichs.
    Das Tosen der ersten großen Ozeane. Neues Leben in der Tiefe, schweigend in düsterer Schwere.
    Ich wiegte meinen Kopf träge im Wasser hin und her. Zu Sinnen kommen, zu Sinnen kommen! Sah den Schatten des Porzellanbodens unter mir. Sah mal rechts, mal links das helle Rund des Schüsselrandes.
    Sah von unten durch die zitternde Oberfläche ein Gesicht, das sich neben mir über die Schüssel beugte. Verzerrt, verformt, von braunem Haar umrahmt.
    In einem Bogen aus glitzernden Wasserkristallen warf ich den Kopf zurück, sog begierig die Luft ein wie ein Kind die Milch der Mutterbrüste. Atmete schwer ein und aus, versuchte, wieder zu mir selbst zu finden. Die Milch der Mutterbrüste.
    Ihre Brüste. Ich sah sie vor mir, wollte sie fassen, streicheln, an meinen Wangen spüren.
    Ich riß die Augen auf und schaute mich um. Niemand war im Zimmer außer ich selbst. Niemand stand neben mir. Ihr Gesicht, nur ein Traum. Ein Gedanke, der auf der Oberfläche der Wirklichkeit einen Schatten warf. Ein Spiegelbild meiner Wünsche.
    Ich war verrückt, verrückt nach ihr, einem Traumgespinst.
    Erwog sogar, den Kopf noch einmal in die Schüssel zu tauchen, nur um die Vision ein weiteres Mal herbeizulocken, nur um sie wiederzusehen.
    Statt dessen aber griff ich nach einem Handtuch, rieb mein Haar trocken, so kräftig, bis es auf der Kopfhaut schmerzte, viel fester als nötig. Obwohl sich meine Verwirrung klärte, konnte ich die Erscheinung – meine und auch Annas – nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich fürchtete und hoffte zugleich, sie würde nun für immer dort bleiben, stets an meiner Seite, immer einen schmalen Grat aus Wahnsinn entfernt. Meine Gedanken tasteten nach ihr, selbst wenn ich sie auf andere Dinge richtete. Ich warf mich aufs Bett und zählte bis hundert, rezitierte

Weitere Kostenlose Bücher