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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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betrachten, als sei es das erste Mal.
    Annas Lippen waren von ungewohnter Röte, vielleicht weil immer noch ein dünner Blutfilm darüber lag.
    Ihre leuchtenden, blauen Augen lagen im Widerstreit mit ihrem schwächlichen Körper; in ihnen war keine Spur von Krankheit, nur wache Intelligenz. Sie war natürlich zu dünn, fast abgemagert, aber da war etwas an ihr, das ungemein anziehend wirkte, nicht allein die strahlenden Augen, sondern die Leidenschaft in vielem, was sie sagte. Ganz gleich, ob sie von Gott, ihrer Schwester oder den Marienerscheinungen sprach, immer war da eine unnachgiebige Besessenheit in ihrer Stimme. Ich fragte mich, was für eine Frau aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht den Weg ins Kloster eingeschlagen hätte.
    Wie hätte eine Anna ohne ihr Gelübde ausgesehen, wie hätte sie sich verhalten, worüber hätte sie gesprochen?
    »Möchten Sie mir von Ihrer Kindheit erzählen?« fragte ich.
    »Von Ihren Eltern?«
    »Würden Sie gerne etwas über sie hören?«
    »Warum nicht?«
    »Sie waren Tagelöhner auf den Besitzungen eines Bauern, nicht weit von hier. Wir lebten in einer kleinen Hütte, die nur aus einem einzigen großen Raum bestand. Er war pechschwarz vom Ruß der Kochstelle – die Wände, die Türen, manchmal sogar die Möbel, je nachdem, wie der Wind stand. Der Raum war sowohl Küche als auch Wohnstube. Gertrud, meine Eltern und ich schliefen hinter einigen Bretterverschlägen an der einen Seite, auf der anderen Seite blickte durch eine Öffnung das Vieh aus dem Stall herein.«
    Annas Bericht erfüllte mich mit leisem Unbehagen. Ich fühlte keine Schuld, nicht einmal Mitleid, und doch war ich peinlich berührt. Als ob man an einem Bettler vorbeigeht, ohne ihm eine Münze zuzuwerfen, um es zwei Schritte später zu bedauern; doch dann bringt man nicht mehr die Courage auf, zu ihm zurückzugehen. Auch jetzt hätte ich es vorgezogen, schnell in eine andere Richtung zu schauen, doch die Bilder, die Annas Worte in mir heraufbeschworen, ließen das nicht zu.
    »Mein Vater war vielleicht kein allzu kluger Mann«, sagte sie, »zumindest nicht in dem Sinne, wie Sie ›klug‹ verstehen würden. Aber er verfügte über einen großen Schatz an frommen Redensarten, und sie bestimmten sein ganzes Leben.
    So bestand er immer darauf, daß wir morgens als erste auf dem Feld waren, lange vor Sonnenaufgang. Er sagte, so früh liege noch der erste Segen des Tages auf den Feldern, noch sei keine Sünde begangen, noch kein böses Wort gesprochen worden.
    Und wenn dann die Dämmerung anbrach, und der ferne Kirchturm des Dorfes aus dem Dunst auftauchte, ließ er uns in der Arbeit innehalten und ein Gebet sprechen. Wenn wir Gott sehen können, sagte er immer, dann kann er auch uns sehen und unsere Arbeit segnen.«
    »Und Ihre Mutter? War sie genauso religiös?«
    »Sie hätten jetzt gerne ›verbohrt‹ gesagt, nicht wahr?«
    »Ich…«
    »Hören Sie auf, sich zu verteidigen.« Sie lächelte einfühlsam.
    »Mutter wollte vor Gott vor allem als brave Haushälterin dastehen, das war für sie das Allerwichtigste. Für sie war kein Schicksalsschlag zu grausam, keine Strafe zu beschwerlich, wenn nur im Haushalt alles seine Ordnung hatte. ›Lieber Gott‹, hat sie oft gebetet, ›schlage so hart, wie du willst, aber schenke mir Geduld.‹« Auf einmal wechselte Anna das Thema, so plötzlich, daß ich einen Moment lang Mühe hatte, ihr zu folgen. »Ich bin eine furchtbare Gastgeberin! Nun sind Sie schon den, ja, den wievielten Tag eigentlich hier? Den fünften, nicht wahr? Und ich habe Ihnen in all der Zeit nicht einmal etwas zu trinken angeboten.«
    »Oh«, sagte ich, »ich nehme einen Sherry. Den guten aus Jerez la Frontera, bitte.«
    Ich war ziemlich sicher, daß sie nicht verstand, wovon ich sprach, aber sie lachte, und das machte mich glücklich.
    »Lassen Sie nur«, sagte ich schließlich, »ich bin auch ohne Glas ein ganz passabler Gast.« Ich mußte an die leere Flasche denken, die ich auf dem Tisch im Quartier des Abbé hatte stehenlassen. Was hätte Anna wohl gesagt, wenn ich damit zu ihr gekommen wäre und mich hier, gleich neben ihrem Bett, betrunken hätte? Nichts, wahrscheinlich. Hätte nur dagelegen, gelächelt und mich gütig aus ihren sommerblauen Augen angeschaut.
    Ihre Arme ruhten verborgen unter dem blutbefleckten Laken.
    Ich legte vorsichtig meine Hand darauf, fühlte die Wärme, die von ihr ausging, sogar durch den Stoff hindurch, spürte, wie sie an den Härchen auf meinem Arm emporklomm, an den

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