Das Generationenschiff
Überbleibsel aus der Vergangenheit zu schaffen. Wie zum Beispiel meine vermißte Tochter … Ich habe Ihnen davon erzählt. Wie mein Zusammentreffen mit Sassinak. Die Leute sagen einem: ›Lebe einfach Dein Leben weiter und laß alles hinter dir.‹ Und es liegt tatsächlich hinter mir und ist unendlich weit weg, aber gleichzeitig schleppe ich es die ganze Zeit mit mir herum. Das sind Konsequenzen, die die meisten Menschen nicht kennen, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen müssen.«
»Aha. Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Denn ich werde bald den langen Marsch antreten und den Tod sterben, aus dem es kein Erwachen mehr gibt, und ich habe den Eindruck, daß mein jüngeres Ich -das Ich, das Sie kannten – für Sie noch lebt. Daß es noch jung ist, dieses Ich, an das sich niemand hier so genau erinnert wie Sie. Sagen Sie, Lunzie, wird dieses Ich« – er zeigte mit dem Daumen auf seine Brust – »in Ihrer Erinnerung das Ich auslöschen, das ich einmal war? Das Ich, das Sie kannten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur ein wenig blinzele, sehe ich Sie so wie damals vor mir. Es fällt mir jetzt noch schwer, zu glauben, daß Sie … Es tut mir leid …«
»Nein, schon gut. Ich verstehe Sie, und genau darum ging es mir.« Er atmete ein wenig schneller, als habe er sich körperlich angestrengt, aber er sah nicht gestreßt, nur ein wenig aufgeregt aus. »Lunzie, es ist eine sentimentale Sache, ein törichter Wunsch, und ich gebe ihn ungern preis. Ich schäme mich dafür, daß ich diesen Wunsch habe. Aber ich weiß, wie schnell die Erinnerungen verblassen. In all den Jahren dachte ich, daß ich mich genau an Sie erinnere. Unser Wiedersehen hat mir bewiesen, daß dem nicht so ist. Ich hatte diesen goldenen Flecken in Ihrem rechten Auge vergessen und die Art, wie Sie diesen Finger krümmen.« Er zeigte darauf, und Lunzie senkte den Blick und war überrascht, auf eine Geste aufmerksam gemacht zu werden, die ihr selbst nie an sich aufgefallen war. »Deshalb weiß ich, daß man mich – mein Ich, mein gegenwärtiges Ich – vergessen wird, so wie mein jüngeres bereits vergessen worden ist. Ich weiß, daß es allen so geht. Aber … aber Sie, Sie behalten mein jüngeres Ich in Erinnerung, und Sie werden weiterleben … wie lang? Ein Jahrhundert vielleicht noch? Zu dieser Zeit werde ich für meine Urenkel nur noch ein Name sein und alle Geschichten sind vergessen. Außer wenn Sie da sind.«
»Wollen Sie … wollen Sie mich bitten, Sie in Erinnerung zu behalten? Sie wissen sicher, daß ich gar nicht anders kann.«
»Ja … aber nicht nur das. Ich bitte Sie, mich so in Erinnerung zu behalten, wie ich einmal war, als der junge Schwerweltler, dem Sie vertraut, den Sie geliebt haben, auch wenn es nur ein wenig und für kurze Zeit war. Ich bitte Sie, die Erinnerung klar im Gedächtnis zu bewahren, wann immer Sie über mein Volk nachdenken. Der Kälteschlaf hat eine besondere Bedeutung für unser Volk.«
»Ich weiß. Der Mann, den Sie mir geschickt haben, sagte es mir.«
Zebara hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. »Ich sollte nicht überrascht sein. Sie sind eine Person, mit der man leicht ins Gespräch kommt. Aber wenn mich jemand gefragt hätte, ob Major Hessik mit einem Leichtgewicht über solche Dinge sprechen würde, hätte ich es für ausgeschlossen gehalten.«
»Ich brauchte etwas, um vom Thema Leder abzulenken«, sagte Lunzie und rümpfte die Nase. »Und so sind wir irgendwie …«
Sie erzählte ihm, was Hessik ihr erklärt hatte. Zebara hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.
»Das ist richtig«, sagte er, als sie fertig war. »Ein symbolischer Tod und eine Wiedergeburt, die Sie einige Male durchgestanden haben. Und die Sie bitte noch einmal durchstehen sollten, mir und meinem Volk zuliebe.«
Das rigorose Nein, das sie hatte aussprechen wollen, blieb ihr im Hals stecken.
»Ich … ich hab’s nie gemocht«, sagte sie und fragte sich, ob es für ihn so lächerlich klang wie für sie.
»Natürlich nicht, Lunzie. Ich habe Sie heute aus mehreren Gründen herbringen lassen. Zunächst wollte ich Sie an etwas erinnern – und habe mich von Ihnen daran erinnern lassen –, weil ich bald sterben werde. Ich will durch Ihre Erinnerungen noch einmal diese kurze glückliche Zeit erleben, die wir gemeinsam hatten. Ich weiß, daß es sentimental ist, die Sentimentalität eines alten Mannes. Zweitens möchte ich mit Ihnen über mein Volk reden, seine Geschichte, seine Sitten, in der Hoffnung, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher