Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
das Tempo nicht. Im Traum bin ich Kommandant Ga. Mein ganzes Leben lang bin ich von anderen gelenkt worden, immer war ich derjenige, der den anderen Platz machen musste. Aber Kommandant Ga ist anders, Kommandant Ga gibt Gas.«
    »Sind Sie in dem Traum gerade Kommandant Ga geworden?«, fragten wir ihn.
    Doch er redete weiter, als habe er uns gar nicht gehört. »Quer durch den Mansu-Park ... Nebel vom Fluss ... In den Wäldchen stehlen Familien Esskastanien aus den Bäumen – die Kinder wippen auf den Ästen herum und treten die Kastanien los, und unten öffnen ihre Eltern die stacheligen Kugeln mit Steinen. Hat man erst mal einen gelben oder blauen Eimer entdeckt, sieht man die Menschen plötzlich überall – ganze Familien sind da und riskieren ihr Leben, weil sie Kastanien aus öffentlichen Parkanlagen stehlen. Ist das ein Spiel? , will Sun Moon wissen. Wie lustig das aussieht, die Kinder in ihren weißen Schlafanzügen da oben in den Bäumen. Vielleicht machen sie ja Turnübungen. Akrobatik vielleicht. Ich genieße solche Überraschungen. Was für einen schönen Film könnte man daraus machen: Eine Artistenfamilie, die nachts im Park ihre Zirkuskunststücke einübt! Sie müssen heimlich üben, weil ihnen sonst eine mit ihnen verfeindete Zirkusfamilie die Tricks stiehlt. Kannst du diesen Film nicht richtiggehend vor dir sehen? , fragt sie mich. Was für ein vollendeter Augenblick. Am liebsten wäre ich von der Brücke gefahren, damit wir beide sterben und dieser Augenblick nie endet. So groß ist meine Liebe für Sun Moon, eine Frau, die so rein und unschuldig ist, dass sie den Anblick verhungernder Menschen nicht kennt.«
    Alle fünf schwiegen wir vor Ehrfurcht. Kommandant Ga hatte sich sein Beruhigungsmittel auf jeden Fall verdient. Ich sah Q-Ki mit einem Blick an, der ihr sagen sollte: Da, das war ein kleiner Einblick in vollendete Verhörkunst.
    In unserem Geschäft sollte man nicht arbeiten, wenn man seine Klienten nicht immer wieder faszinierend findet. Wenn man sie nur zusammenprügeln will. Wir dachten uns, dass Kommandant Ga nach jemandem aussah, der seine Wunden selbst versorgen konnte, und schlossen ihn mit Desinfektionsmittel und Verband in einer Zelle ein. Dann tauschten wir unsere Kittel gegen Vinalonmäntel und besprachen seinen Fall, während wir die steile Rolltreppe zur U-Bahn hinunterfuhren, die noch tiefer unter der Erde lag als unsere Räume. Man bemerke, dass unser Klient einen nahezu vollständigen Identitätswechsel vollzogen hat – der Betrüger träumt sogar, er sei Kommandant Ga. Man bemerke weiterhin, dass er seine Geschichte wie eine Liebesgeschichte einleitet, mit Betrachtungen über Schönheit und den Wunsch, jemanden zu beschützen. Seine Geschichte fängt nicht damit an, wo er das amerikanische Auto her hat. Er erwähnt nicht den Umstand, dass sie von Kim Jong Ils Festveranstaltung heimfahren, bei der Ga zur Unterhaltung der Gäste gedemütigt und zusammengeschlagen wurde. Er vergisst die Tatsache, dass er den Mann dieser Frau, die er angeblich »liebt«, irgendwie aus dem Weg geräumt hat.
    Ja, gewisse Fakten über Ga waren uns bereits bekannt, das äußere Gerüst, wenn man so will. Die Gerüchte machten ja seit Wochen in der Hauptstadt ihre Runde. Es war das Innere, das wir entdecken mussten. Ich spürte jetzt schon, dass dies die größte, wichtigste Biografie war, die wir je verfassen würden. Vor meinem geistigen Auge sah ich sogar schon den Einband. Ich konnte mir vorstellen, wie der uns bis dato unbekannte, wahre Name Gas auf dem Buchrücken eingeprägt wurde. In meiner Fantasie war das Buch schon vollendet. Ich stellte es bereits ins Regal, knipste das Licht aus und schloss die Tür des Raumes hinter mir, in dem der Staub mit einem Tempo von drei Millimetern pro Jahrzehnt durch die Dunkelheit rieselt.
    Die Bibliothek ist für uns ein heiliger Ort. Besucher haben keinen Zugang, und ist ein Buch erst einmal geschlossen, wird es nie wieder geöffnet. Ja, natürlich stöbern die Typen von der Propaganda manchmal darin herum – sie suchen eine anrührende Geschichte, die sie den Bürgern über die Lautsprecher erzählen können, aber wir sind Geschichtensammler, keine Geschichtenerzähler. Wir haben nichts mit den wackeligen Kriegsveteranen zu tun, die vor dem Altenheim Respekt vor den Senioren in Moranbong auf der Straße hocken und rührselige Geschichten zum Besten geben.
    Ich steige an der Metrostation Kwangbok mit dem prächtigen Mosaik des Samji-Sees aus. Als ich aus

Weitere Kostenlose Bücher