Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
einmal die Biografie eines Klienten in der Hand, dann steht nichts mehr zwischen diesem Bürger und dem Staat. Das ist wahre Harmonie – das Prinzip, auf das unsere Nation gegründet ist. Zugegeben, manche unserer Klienten haben weit ausufernde Lebensgeschichten, deren Aufzeichnung Monate dauert. Doch wenn es etwas gibt, das in Nordkorea keine Mangelware ist, dann ist es Zeit: Wir haben alle Zeit der Welt.
Wir schlossen den Professor an den Autopiloten an, und er wirkte recht überrascht, als die Stromstöße einsetzten. An seinem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass er verzweifelt herauszufinden versuchte, was wir von ihm wollten und wie er es uns liefern könnte, aber die Biografie war abgeschlossen, es gab keine weiteren Fragen mehr. Voller Grauen beobachtete der Professor mich, als ich mich über ihn beugte und den goldenen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche an mich nahm – ein Metallgegenstand kann den Strom bündeln und die Kleidung in Brand setzen. Die Augen des Professors zeigten, dass ihm mit einem Mal klar wurde, dass er nun kein Professor mehr war, dass er nie wieder einen Kugelschreiber benötigen würde. Vor noch nicht allzu langer Zeit, als wir Kinder waren, wurden Leute wie der Professor noch montagmorgens vor Arbeitsbeginn im Fußballstadion erschossen, meist gemeinsam mit einer Handvoll ihrer Studenten. Alswir dann studierten, begann man, alle in die Gefängnisbergwerke zu schicken, wo die Lebenserwartung ein halbes Jahr beträgt. Und heutzutage werden natürlich viele unserer Klienten der Organentnahme zugeführt.
Wenn die Erzgruben ihren Schlund aufreißen und mehr Arbeiter benötigen, dann müssen natürlich ausnahmslos alle dorthin, da haben wir kein Mitspracherecht. Aber bei Menschen wie dem Professor sind wir überzeugt, dass sie unserem Land noch ein ganzes, zufriedenes Arbeitsleben zu bieten haben. Und deswegen fahren wir die Spannung hoch bis auf ein unvorstellbares Niveau, bis zu einem sich zäh dahinwälzenden Strom aus Schmerz. Schmerzen dieser Art erzeugen einen Bruch in der Persönlichkeit – der Mensch, der sich ans andere Ufer dieses Flusses rettet, wird kaum noch Ähnlichkeit mit dem Professor haben, der sich in die Fluten gestürzt hatte. In ein paar Wochen wird er ein nützliches Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft sein, und vielleicht können wir sogar eine Witwe für ihn finden, die ihn tröstet. Es hilft nun einmal nichts: Wer ein neues Leben will, muss das alte aufgeben.
Jetzt war es besser, wenn unser kleiner Professor erst mal ein bisschen für sich blieb. Wir stellten den Autopiloten ein, der sämtliche Herzkreislauffunktionen des Klienten überwacht und den Schmerz in modulierenden Wellen verabreicht, schlossen die schallgedämmte Tür hinter uns zu und gingen in die Bibliothek. Am Nachmittag würden wir unseren Professor mit riesengroßen Pupillen und klappernden Zähnen wiedersehen und ihm in seine Straßenkleidung helfen, damit er seine große Reise aufs Land antreten konnte.
Unsere Bibliothek ist natürlich im Grunde nur ein Lagerraum mit dichtgestellten, deckenhohen Regalen, aber ich mache aus der Anlieferung einer neuen Biografie gern einenkleinen feierlichen Akt. Und wieder muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich dauernd »ich« sage. Ich versuche, es nicht mit zur Arbeit zu bringen. In unserer Gesellschaft, in der das Kollektiv zählt, sind wir hier die Einzigen, für die das Individuum eine Rolle spielt. Gleichgültig, was nach dem Verhör aus unseren Klienten wird – hier sind und bleiben sie. Wir haben sämtliche Fälle aufbewahrt. Die Ironie besteht natürlich darin, dass der Durchschnittsbürger, der normale Verhörexperte zum Beispiel, wie er hier auf der Straße herumläuft, nie seine Geschichte erzählen darf. Er wird nicht nach seinem liebsten Sun-Moon-Film befragt; niemand will wissen, ob er lieber Hirsefladen oder Hirsebrei isst. Nein, es ist schon eine grausame Verkehrung des Schicksals: Nur den Staatsfeinden wird diese Art von Sonderbehandlung zuteil.
Mit einem kleinen Tusch stellten wir die Biografie des Professors ins Regal, neben die kleine Tänzerin von letzter Woche. Das junge Mädchen hatte uns alle zum Weinen gebracht, als sie beschrieb, wie ihr kleiner Bruder sein Augenlicht verloren hatte, und als wir sie an den Autopiloten anschlossen, hoben sich ihre Gliedmaßen und schweiften mit rhythmischen, anmutigen Gesten durch die Luft, als erzähle sie mit diesen Bewegungen ihre Geschichte ein letztes
Weitere Kostenlose Bücher