Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
der U-Bahn hoch in meinen Stadtteil Pot'onggang komme, ist die Luft erfüllt vom Rauch der Kochfeuer. Eine alte Frau brät auf dem Bürgersteig Zwiebelgrün, und ich sehe, wie die Verkehrspolizistin ihre blaue Sonnenbrille abnimmt und eine bernsteinfarbene für den Abend aufsetzt. Auf der Straße tausche ich den goldenen Kugelschreiber des Professors gegen Gurken, ein Kilo UN-Reis und ein wenig Sesampaste ein. Während wir feilschen, gehen über uns die Lichter in den Wohnungen an, und man sieht, dass die Hochhäuser nur bis zum achten Stock bewohnt sind. Die Aufzüge funktionieren eigentlich nie, und wenn doch, dann fällt der Strom bestimmt gerade aus, wenn man zwischen zwei Stockwerken im Schacht steckt. Mein Hochhaus heißt Heiliger Ahnenberg Paektu , und ich bin der einzige Bewohner des einundzwanzigsten Stockwerks; auf dieser Höhe kann ich mir sicher sein, dass meine alten Eltern nie unbeaufsichtigt das Haus verlassen. Die Treppe hochzusteigen dauert gar nicht so lange, wie man glauben sollte – man gewöhnt sich an alles.
In der Wohnung empfängt mich das Getöse des fest in der Wand installierten Lautsprechers mit der abendlichen Propagandasendung. Eigentlich hat ja jede Wohnung, jede Fabrikhalle in Pjöngjang so einen Lautsprecher, nur unser Arbeitsplatz nicht; die Verlautbarungen würden unseren Klienten zu viel Orientierung bieten, Datum und Uhrzeit zum Beispiel, und zu viel Normalität. Wenn die Klienten zu uns kommen, sollen sie lernen, dass ihre Welt von früher aufgehört hat zu existieren.
Ich koche Abendessen für meine Eltern. Als sie den ersten Löffel in den Mund stecken, preisen sie Kim Jong Il für den Wohlgeschmack, und wenn ich sie frage, wie ihr Tag verlaufen ist, dann sagen sie, er sei sicher nicht so anstrengend gewesen wie das Tagwerk des Geliebten Führers Kim Jong Il, der das Schicksal unseres Volkes auf seinen Schultern trage. Meine Eltern haben gleichzeitig ihr Augenlicht verloren und scheinen jetzt unter der Wahnvorstellung zu leiden, dass jemand in der Wohnung ist, den sie nicht sehen können und der ihnen für alles, was sie sagen, an den Kragen will. Sie hören den ganzen Tag dem Lautsprecher zu, begrüßen mich als Bürger! , wenn ich nach Hause komme, und geben keinerlei persönliche Gefühle preis, damit sie auch ja von keinem unsichtbaren Fremden denunziert werden. Deswegen sind unsere Biografien ja auch so wichtig: Hier hält jemand einmal nicht alles vor der Regierung geheim, führt sein Leben nicht im Verborgenen. Unsere Bücher zeigen vorbildlich, wie man in wahrer Harmonie mit der Regierung lebt. Ich stelle mir gern vor, dass ich so zu einer besseren Zukunft beitrage.
Während ich auf dem Balkon meine Schale auslöffle, blicke ich hinunter auf die Flachdächer der niedrigeren Gebäude, die im Rahmen der Gras-zu-Fleisch-Kampagne begrünt worden sind. Sämtliche Ziegen auf dem Dach gegenüber meckern aufgeregt, weil mit der Dämmerung die Uhus aus den Bergen geflogen kommen, um hier zu jagen. Ja, denke ich, Gas Geschichte sollte auf jeden Fall erzählt werden: Ein unbekannter Mann gibt sich als Volksheld aus. Jetzt hat er Sun Moon. Auf einmal steht er dem Geliebten Führer ganz nah. Und als eine amerikanische Delegation nach Pjöngjang kommt, nutzt dieser Unbekannte den Wirbel, um die schöne Frau zu ermorden, auch wenn er sich selbst damit ans Messer liefert. Er versucht noch nicht einmal zu fliehen. Das nenne ich mal eine Biografie!
Ich habe mich schon am Verfassen meiner eigenen versucht, nur als Übung, damit ich meine Klienten besser verstehe. Das Ergebnis ist ein Katalog, der banaler ist als alles, was die Gäste unserer Abteilung 42 zu berichten haben. Meine Autobiografie ist mit tausend Trivialitäten gefüllt: Dass die Brunnen der Hauptstadt nur ein paar Mal im Jahr angestellt werden, wenn ausländische Besucher eintreffen. Oder dass sich in meinem Viertel der größte Mobilfunkmast der Stadt befindet, obwohl Mobiltelefone verboten sind und ich noch nie jemanden ein solches Gerät habe benutzen sehen. Und doch steht der große, grün angemalte, mit künstlichen Ästen ausstaffierte Turm direkt auf der anderen Seite der Pot'ong-Brücke. Oder wie ich einmal nach Hause kam und ein ganzes KVA-Regiment vor meinem Wohnblock auf dem Bürgersteig hockte und die Bajonette am Beton des Rinnsteins schärfte. War das eine an mich gerichtete Botschaft, oder an jemand anderen? Reiner Zufall?
Als Experiment war die Autobiografie ein Reinfall – wowar das Ich darin? Auch
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