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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ließ sich nur mit Mühe das Gefühl unterdrücken, dass mir etwas Schlimmes zustoßen würde, sobald ich sie fertigstellte. Im Grunde aber kam ich einfach nicht mit dem Pronomen »ich« zurecht. Selbst hier zu Hause auf meinem eigenen Schreibblock fällt es mir schwer, dieses Wort niederzuschreiben.
    Während ich an dem Gurkensaft unten in meiner Reisschale nippte, sah ich dem letzten Licht zu, das wie ein flackerndes Feuer über dem Wohnblock am anderen Flussufer tanzte. Wir verfassen die Biografien unserer Fälle in der dritten Person, um die Objektivität zu wahren. Vielleicht wäre es auch einfacher, wenn ich meine eigene Biografie so verfassen würde, als ginge es in der Geschichte nicht um mich, sondern um einen unerschrockenen Vernehmungsbeamten. Aber dann würde ich ja meinen Namen benutzen müssen, und das verstößt gegen die Vorschriften. Und was wäre der Sinn einer persönlichen Geschichte, wenn man nur »Der Vernehmungsbeamte« genannt wird? Wer will ein Buch lesen, das Der Biograf heißt? Nein, man will ein Buch lesen, das den Namen einer Person trägt. Man will ein Buch mit einem Titel wie Der Mann, der Sun Moon tötete .
    Weiter weg spiegelte sich das Sonnenlicht im Wasser und zuckte hell über eine Häuserwand. Urplötzlich kam mir eine Idee.
    »Ich habe etwas bei der Arbeit vergessen«, erklärte ich meinen Eltern und schloss sie ein.
    Ich fuhr mit der U-Bahn quer durch die Stadt, zurück zur Abteilung 42, doch es war zu spät – der Strom ging aus und wir blieben mitten im Tunnel stecken. Im Licht von Streichhölzern stiegen alle aus den U-Bahn-Waggons und liefen im Gänsemarsch an den dunklen Gleisen entlang zurück zur Station Rakwan, wo die stillstehende Rolltreppe jetzt ein steiler Aufstieg war – hundert Meter hoch bis zum Ausgang. Als ich auf die Straße hinaustrat, war es stockfinster, und das Gefühl, von einer Dunkelheit in die nächste zu geraten, behagte mir gar nicht – ich fühlte mich wie in Kommandant Gas Traum, in dem schwarze Gestalten über die Straßen flitzten und Busse wie Haie ihre Runden durch die Finsternis zogen. Fast konnte ich mir vorstellen, dass mir heimlich ein amerikanisches Auto folgte.
    Als ich Kommandant Ga weckte, tippten seine Finger wieder seinen Traum mit, aber diesmal langsam und fahrig. In Nordkorea produzieren wir ein Beruhigungsmittel von Weltniveau, das kann ich Ihnen sagen.
    Als er wach war, fragte ich: »Sie haben von Ihrer ersten Begegnung mit Sun Moon erzählt, sie habe neben einem Gebäude stattgefunden, richtig?«
    Kommandant Ga nickte bloß.
    »Da wurde also ein Film auf die Seitenwand eines Gebäudes projiziert, habe ich recht? Sie haben sie also zum ersten Mal in einem Film gesehen?«
    »In einem Film«, wiederholte Kommandant Ga stumpf.
    »Und dazu wurde die Wand des Lazaretts genommen, weil sie weiß war. Sie haben den Film also unter freiem Himmel gesehen. Und es schneite heftig, weil Sie hoch in den Bergen waren.«
    Kommandant Ga fielen die Augen zu.
    »Und die brennenden Schiffe, das war ihr Film Nieder mit den Tyrannen ?”
    Kommandant Ga war schon wieder weggedöst, aber das sollte mich nicht stoppen.
    »Und die Menschen, die im Lazarett gestöhnt haben – die stöhnten, weil sie im Straflager waren, oder nicht?«, fragte ich ihn. »Sie saßen im Gefängnis, habe ich nicht recht?«
    Eine Antwort brauchte ich nicht. Und natürlich: Welch besseren Ort als ein Gefängnisbergwerk konnte es geben, um dem echten Kommandanten Ga, dem Minister für Gefängnisbergwerke, zu begegnen? Dann war er also beiden dort begegnet, Mann und Frau.
    Ich zog das Laken hoch, bis es seine Tätowierung bedeckte. Im Grunde dachte ich von ihm schon als Kommandant Ga. Es würde schade sein, seine wahre Identität aufzudecken – Q-Ki hatte recht, er würde umgehend auf offener Straße erschossen werden. Man kann nicht einen Minister umbringen, aus dem Zwangsarbeitslager ausbrechen, dann die Familie des Ministers ermorden und trotzdem noch Bauer in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft werden. Ich musterte den Mann vor mir. »Was hat Ihnen der echte Kommandant Ga angetan?«, fragte ich ihn. Seine Hände kamen unter dem Laken hervor, und er fing an, auf seinem Bauch zu tippen. »Was hat Ihnen der Minister Schlimmes angetan, dass Sie erst ihn und dann seine Frau und seine Kinder ermordet haben?«
    Während seine Hände tippten, starrte ich auf seine geschlossenen Augen; die Augäpfel hinter den Lidern bewegten sich nicht. Er schrieb gar nicht das auf,

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