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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Fünfundfünfzig-Kilo-Klasse hat sich gerade mit dem Dwit Chagi Ga qualifiziert«, sagte sie. Dieser Rückwärtstritt war Gas Spezialität: Er hatte den Dwit Chagi so abgewandelt, dass man vor der Ausführung dem Gegner den Rücken zuwandte, um ihn näher heranzulocken. Entweder kannte sich dieser Ga nicht mit Taekwondo aus, oder er sprang nicht darauf an. Er war ja natürlich sowieso nicht der echte Kommandant Ga, konnte also kaum Kenntnis von den Goldgurt-Feinheiten des Kampfsports haben. Es war eine Fangfrage, um herauszufinden, inwieweit der Häftling tatsächlich überzeugt war, Kommandant Ga zu sein.
    Ga schlang den letzten Bissen herunter und schob die Schale von sich.
    »Ihr findet sie nie«, sagte er zu uns. »Was aus mir wird, istmir egal. Ihr braucht also gar nicht zu versuchen, es aus mir herauszuholen.«
    Seine Stimme war fest, und Vernehmungsbeamte sind es nicht gewöhnt, dass jemand so mit ihnen spricht. Ein paar Pubjok hörten seinen Tonfall und kamen herüber.
    Kommandant Ga zog die Teekanne an sich. Statt sich eine Tasse einzuschenken, fasste er in die Kanne, holte den dampfenden Teebeutel heraus und legte ihn auf seine Platzwunde über dem Auge. Vor Schmerzen kniff er die Augen zusammen, heiße Teetränen rannen ihm übers Gesicht. »Sie wollen meine Geschichte, haben Sie gesagt. Die sollen Sie haben, alles, außer dem Schicksal der Frau und ihrer Kinder. Aber zuerst brauche ich etwas.«
    Einer der Pubjok zog sich den Schuh aus und kam drohend auf Ga zu.
    »Halt«, rief ich. »Lasst ihn ausreden.«
    Der Pubjok blieb mit hoch erhobenem Schuh stehen.
    Ga reagierte gar nicht auf die Drohgebärde. Ob das auf ein Schmerztraining zurückzuführen war? Oder war er an Schläge gewöhnt? Manche Leute fühlen sich einfach besser, wenn sie eine gute Tracht Prügel bezogen haben – Prügel sind oft ein probates Mittel bei Selbsthass und Schuldgefühlen. Ob ihm die zu schaffen machten?
    Sehr ruhig teilten wir dem Pubjok mit: »Er gehört uns. Sarge hat uns sein Wort gegeben.«
    Die Pubjok machten einen Rückzieher, vier von ihnen setzten sich aber mit ihrer Teekanne zu uns an den Tisch. Sie trinken natürlich immer Pu-Erh -Tee und stinken den ganzen Tag danach.
    »Und was brauchen Sie?«, fragten wir Kommandant Ga.
    Er antwortete: »Ich brauche die Antwort auf eine Frage.«
    Die Pubjok waren außer sich. Noch nie im Leben hattensie einen Häftling so reden hören. Mein Team sah mich an. »Ich glaube nicht, dass wir diese Richtung einschlagen sollten, Chef«, sagte Q-Ki.
    Jujack sagte: »Bei allem Respekt, Chef, aber ich finde, dass wir diesen Knaben an der riesig aufblühenden weißen Blume schnuppern lassen sollten.«
    Ich hielt die Hand hoch. »Das reicht«, sagte ich. »Unser Häftling wird uns berichten, wie er mit Kommandant Ga zusammentraf, und wenn er fertig ist, werden wir ihm eine Frage seiner Wahl beantworten.«
    Die Oldtimer sahen sich das Ganze fassungslos an. Zornig stützten sie sich auf ihre harten, sehnigen Unterarme; ihre knotigen Hände mit den krummen Fingern und schief eingewachsenen Nägeln mussten sie ineinander verkrallen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
    Kommandant Ga sagte: »Ich bin Kommandant Ga zwei Mal begegnet. Das erste Mal im Frühling – ich hörte am Abend vor seiner Ankunft, dass er dem Straflager einen Besuch abstatten würde.«
    »Fangen Sie damit an«, sagten wir zu ihm.
    »Kurz nachdem ich ins Straflager 33 kam«, erzählte er, »setzte Mongnan ein Gerücht in die Welt, einer der neuen Sträflinge sei ein verdeckter Agent des Ministeriums für Gefängnisbergwerke, der Wärter dingfest machen solle, die nur zum Spaß Häftlinge umbrachten und damit die Produktionsleistung schmälerten. Das Gerücht schien zu wirken – angeblich wurden weniger Insassen zum reinen Zeitvertreib verstümmelt. Im Winter allerdings waren prügelnde Wärter unsere geringste Sorge.«
    »Wie haben die Wärter Sie genannt?«, fragten wir ihn.
    »Im Lager gibt es keine Namen«, antwortete er. »Ich habe den Winter überlebt, aber danach war ich ein anderer Mensch.Sie können sich nicht vorstellen, wie der Winter war, was der mit mir gemacht hat. Als das Tauwetter kam, war mir alles egal. Ich funkelte die Aufseher an, als ob sie Waisenkinder wären. Ich benahm mich bei Selbstkritiksitzungen daneben. Statt zu gestehen, dass ich eine Erzlore mehr hätte schieben oder eine weitere Tonne Erz hätte abbauen können, schimpfte ich mit meinen Händen, sie würden nicht auf meinen Mund hören, oder

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