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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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beschuldigte meinen linken Fuß, dass er meinem rechten nicht folgte. Der Winter hatte mich verändert – das war nicht mehr ich. So eine Kälte – für so etwas gibt es keine Worte.«
    »Himmel noch mal!«, donnerte der alte Pubjok los. Den Schuh hatte er immer noch auf dem Tisch liegen. »Wenn ich diesen Idioten verhören würde, dann wäre jetzt schon ein Bestattungsinstitut unterwegs, um unsere glorreiche Schauspielerin und ihre armen Kleinen abzuholen!«
    »Das ist doch gar nicht Kommandant Ga«, erinnerten wir ihn.
    »Warum hören wir uns dann dieses Gejaule übers Straflager an?« Er blickte Kommandant Ga ins Gesicht. »Du glaubst also, es wäre kalt in den Bergen, ja? Dann stell sie dir mit Yankee-Scharfschützen und B-29-Bombardement vor. Stell dir vor, es gibt keinen Lagerkoch, der dir jeden Tag eine schöne heiße Kohlsuppe kocht. Stell dir vor, es gibt keine gemütliche Lazarettpritsche, auf der du schmerzlos von deinem Elend erlöst wirst.«
    Unser Team war noch nie bombardiert worden, aber was Kommandant Ga erzählt hatte, konnten wir uns gut vorstellen. Einmal mussten wir hoch in den Norden, um einem Wachsoldaten im Zwangsarbeitslager 14-18 die Biografie abzunehmen. Den ganzen Tag saßen wir hinten auf einer Krähe, fuhren hinauf in die Berge, durch die Bodenlatten spritzte derSchlamm, unsere Stiefel waren steifgefroren, und dabei fragten wir uns die ganze Zeit, ob wir wirklich einen Häftling verhören sollten oder ob das Ganze nur ein Vorwand war, um uns ohne Aufstand ins Lager zu verfrachten. Während uns vor Kälte die Scheiße im Hintern festfror, wurden wir den Verdacht nicht los, dass die Pubjok uns endgültig abserviert hatten.
    Kommandant Ga erzählte weiter: »Weil ich neu war, wurde ich neben dem Lazarett untergebracht, wo die Leute die ganze Nacht hindurch jammerten. Ein alter Mann da drin war ganz besonders nervtötend. Er war nicht produktiv, weil er seine Hände nicht mehr gebrauchen konnte. Die Mithäftlinge hätten ihn decken können, aber er war verhasst – sein eines Auge war eingetrübt, und er konnte nur anklagen und fordern. Die ganze Nacht lang ächzte er seine endlose Serie von Fragen. Wer bist du? , schrie er in die Nacht. Warum bist du hier? Warum gibst du keine Antwort? Woche um Woche fragte ich mich, wann die verdammte Blutkonserven-Krähe endlich kommen und ihm das Maul stopfen würde. Aber dann fing ich an, über seine Fragen nachzudenken. Warum war ich dort? Was hatte ich verbrochen? Irgendwann begann ich, ihm zu antworten. Warum willst du nicht gestehen? , schrie er, und ich schrie quer durch die Barracke zurück: Ich will ja gestehen, ich werde alles sagen. Diese Gespräche machten die Insassen nervös, und eines Nachts bekam ich Besuch von Mongnan. Sie war die älteste Frau im Lager; der Hunger hatte sie schon längst spindeldürr werden lassen. Die Haare trug sie kurz wie ein Mann, und ihre Hände waren immer mit Stoffstreifen umwickelt.«
    Kommandant Ga fuhr mit seiner Geschichte fort, wie Mongnan und er sich aus der Baracke geschlichen hatten, an den Wasserfässern vorbei; wir sagten nichts, dachten aberwahrscheinlich alle daran, dass der Name Mongnan »Magnolie« bedeutet, die vollendetste aller riesigen, weißen Blüten. Diese Blüte sehen unsere Klienten, wenn der Autopilot sie auf den Höhepunkt der Schmerzen transportiert: Wie ein winterlicher Berggipfel, wo sich im Schnee eine einzige, weiße Blüte für sie öffnet. Mögen ihre Körper auch noch so zucken – die Stille dieses Bildes ist es, die sie im Gedächtnis behalten. So schlimm kann es dann ja doch nicht sein, oder? Ein einziger Nachmittag der Schmerzen ... und dann hat man die Vergangenheit hinter sich gelassen, jedes Versagen, jedes Manko ist von einem genommen, jede letzte Bitterkeit, die einem noch im Hals steckt.
    »Draußen stieg mein Atem wie eine Fahne vor mir auf«, fuhr Kommandant Ga fort. »Ich fragte Mongnan, wo die ganzen Wärter hin seien. Sie zeigte auf das hell erleuchtete Verwaltungsgebäude. Morgen muss der Minister für Gefängnisbergwerke eintreffen , sagte sie. Ich habe das schon mal erlebt. Dann sitzen sie die ganze Nacht da und fälschen die Bücher.
    Und ?, fragte ich sie.
    Der Minister kommt , sagte sie. Deswegen haben sie uns so geschunden, deswegen sind alle Schwachen ins Lazarett gesteckt worden. Sie zeigte auf den Komplex der Aufseher, in dem jedes Licht hell brannte. Schau, wie viel Strom sie verschwenden, sagte sie. Hör dir den armen Generator an. Man kann den Laden

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