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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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da nur so hell erleuchten, wenn man den Elektrozaun abstellt.
    Und jetzt? Flüchten wir? , fragte ich. Wir können nirgendwohin.
    Ach, mach dir darum mal keine Sorgen, antwortete sie. Wir werden alle hier sterben. Aber nicht heute Nacht.
    Und damit eilte sie über den dunklen Hof, mit steifem Rücken, aber flinken Beinen. Am Zaun holte ich sie ein. Der bestand eigentlich aus zwei Zäunen, zwei parallelen Reihen von Betonpfosten mit Keramikisolatoren und stromführenden Drähten. Dazwischen war das Niemandsland, zugewuchert mit wildem Ingwer und Rettich – normalerweise ging jeder hops, bevor er da drankam.
    Mongnan wollte zwischen den Drähten hindurchfassen. Warte , sagte ich. Sollen wir es nicht lieber erst ausprobieren? Aber Mongnan langte einfach unter dem Zaun hindurch und zog zwei kalte, knackige Rettiche aus der Erde, die wir auf der Stelle verzehrten. Dann gruben wir den wilden Ingwer aus. Alle alten Frauen waren für den Begräbnistrupp eingeteilt – wer starb, wurde da verscharrt, wo er tot umgefallen war, gerade tief genug, dass er nicht vom Regen wieder ausgewaschen wurde. Man konnte genau erkennen, welche Ingwerpflanze eine Leiche mit ihrem Wurzelstock durchbohrt hatte: Ihre Blüten waren groß und irisierten gelb, und wenn sich die Wurzelknolle unter einer Rippe verhakt hatte, ließ sich die Pflanze kaum ausreißen.
    Als nichts mehr in unsere Taschen ging, aßen wir noch einen Rettich, und ich merkte richtig, wie er mir die Zähne reinigte. Oh, die Freuden der Mangelwirtschaft , sagte Mongnan und verspeiste ihren Rettich mit Stumpf und Stiel und Blüte. Dieser Ort ist die reinste Vorlesung über Angebot und Nachfrage. Da ist meine Schultafel , sagte sie und blickte hinauf in den Nachthimmel. Dann fasste sie an den Hochspannungszaun. Und das ist meine Abschlussprüfung. «
    In der Kantine sprang Q-Ki auf. »Einen Augenblick«, sagte sie. »Ist das etwa Li Mongnan, die Professorin, die zusammen mit ihren Studenten denunziert wurde?«
    Kommandant Ga unterbrach seine Erzählung. »Eine Professorin?«, fragte er uns. »Was hat sie unterrichtet?«
    Das war natürlich ein unglaublicher Fauxpas. Die Pubjokschüttelten nur den Kopf. Wir hatten unserem Häftling gerade mehr Informationen gegeben als er uns. Wir schickten beide Praktikanten weg und forderten Kommandant Ga auf, doch bitte fortzufahren.
    »Sind ihre Studenten deportiert worden?«, fragte Ga. »Oder hatte Mongnan sie schon alle im Straflager 33 überlebt?«
    »Bitte fahren Sie fort«, forderten wir ihn auf. »Wenn Sie fertig sind, beantworten wir eine Frage.«
    Kommandant Ga brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen. Dann nickte er und fuhr fort. »Es gab einen Fischteich, in dem die Aufseher Forellen für ihre Familien züchteten. Jeden Morgen wurden die Fische gezählt, und wenn einer fehlte, musste das ganze Lager hungern. Ich folgte Mongnan zu der niedrigen Mauer um das Zuchtbecken; sie hockte sich hin und fing einen Fisch aus dem schwarzen Wasser. Ein paar Versuche waren notwendig, aber sie hatte sich mit einem Stück Draht ein kleines Netz gebastelt, und mit dem Stoff um die Hände konnte sie gut zupacken. Sie hielt eine Forelle hinter den Brustflossen – gesund waren sie und quicklebendig . Hier musst du zudrücken, kurz vor dem Schwanz, sagte sie. Dann massierst du den Fisch da, hinter dem Bauch. Drück zu, wenn du den Rogen spürst. Mongnan hielt den Fisch hoch und molk sich einen aprikosengelben Strom von Eiern in den Mund. Sie warf den Fisch zurück.
    Dann war ich dran. Mongnan fing einen weiteren Fisch und zeigte mir den Schlitz, an dem man erkennen konnte, dass es ein Weibchen war. Fest drücken , sagte sie, sonst kriegst du Fischscheiße . Ich kniff den Fisch, und eine Ladung erstaunlich warmer Eier schoss mir ins Gesicht. Ich roch sie auf meinen Wangen, glibberig, salzig, lebendig, wischte sie mir ab und leckte mir die Finger. Mit ein bisschen Übung hatte ichden Trick schnell heraus. Wir molken ein Dutzend Fische, und die Sterne wanderten über den Himmel, während wir wie betäubt dasaßen.
    Warum hilfst du mir? , fragte ich sie.
    Ich bin eine alte Frau , antwortete sie. Alte Frauen machen so was.
    Ja, aber warum mir?
    Mongnan rieb sich die Hände mit Erde sauber, um den Fischgeruch loszuwerden. Du hast es nötig, sagte sie. Im Winter hast du zehn Kilo verloren. So viel darfst du nicht noch einmal abnehmen.
    Ich frage, was es dich juckt?
    Hast du vom Zwangsarbeitslager Nummer 9 gehört?
    Ich habe davon gehört.
    Das ist ihr

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