Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
wässrige Suppe. Jeden Tag ließ sie ihm ein heißes Bad ein, und er durfte zur Reinigung seines Körpers die Wohnräume betreten. Wie es die Pflicht der Ehefrau ist, badete Sun Moon danach im selben Wasser. Er musste nach dem Baden aber immer zurück in den Tunnel zum Hund – zu einem Tier, das nicht als Haustier gehalten werden sollte. Ein geschlagenes Jahr lang hatte das Untier die Möbel zerkaut und in die Wohnung uriniert. Sun Moons Gatte konnte den Hund schlagen, so viel er wollte, er gehorchte nicht. Jetzt verbrachte Kommandant Ga die Zeit im Tunnel damit, dem Tier Phrasen der Kapitalisten wie »Sitz« und »Bleib« beizubringen. Und der schlimmste Befehl heißt»Fass« – damit wird das Tier aufgefordert, auf den öffentlichen Ländereien des Volkes zu wildern.
Zwei Wochen lang lebten sie so, als würde der echte Ehemann ohnehin irgendwann wieder auftauchen, und alles wäre wie zuvor. Als wäre der unbekannte Mann in ihrem Haus nichts weiter als die Raucherpause in einem ihrer Filme mit Überlänge. Diese Situation war sicherlich nicht einfach für unsere Schauspielerin – man sehe sich nur an, wie sie barfuß und mit verschränkten Armen dastand. Aber glaubte sie denn, dass der Schmerz in ihren Filmen nur gespielt, dass die Darstellung des Leides unseres Volkes erfunden wäre? Glaubte sie wirklich, sie könnte das Land Korea verkörpern, das seit tausend Jahren mit Füßen getreten wird, ohne selbst ein Opfer zu bringen, und sei es ihr Ehemann?
Kommandant Ga, oder wer er auch sein mochte, hatte geglaubt, das Leben in Tunneln läge endlich hinter ihm. Dieser Tunnel war klein – zwar hoch genug, um aufrecht darin zu stehen, aber nicht mehr als fünfzehn Meter lang; er reichte wahrscheinlich nur unter dem Vorgarten hindurch bis zur Straße. Ausgestattet war er mit Vorratsfässern für den nächsten Beschwerlichen Marsch sowie mit einer Glühbirne und einem einzigen Stuhl. Außerdem befand sich eine große DVD-Sammlung dort, allerdings ohne ein Gerät, auf dem man die Filme hätte anschauen können. Doch Ga war es zufrieden, dem Jungen über sich zu lauschen, wie er seine zittrigen Noten auf der Taeg˘um blies. Eine Wohltat war es, die Mutter zu hören, wenn sie die Gayageum zupfte und ihre Tochter die lieblichen, schwermütigen Klänge lehrte. Ga konnte sich gut vorstellen, wie ihre weiten Chosŏnots über den Boden ausgebreitet waren, während sich beide über die klagenden Saiten beugten. Spät in der Nacht lief die Schauspielerin hinter den geschlossenen Türen des Schlafzimmersauf und ab. Unten im Tunnel konnte Kommandant Ga ihre Schritte fast vor sich sehen, so intensiv lauschte er auf jede ihrer Bewegungen. Aus der Zahl der Schritte, die sie zwischen Fenster und Tür zurücklegte, aus der Art, wie sie einen Bogen um bestimmte Stellen schlug, konnte er sich das Schlafzimmer vorstellen und ausmalen, wo sich Bett, Schrank und Schminktisch befanden. Es war fast, als wäre er bei ihr in der Schlafkammer.
Am Morgen des vierzehnten Tages hatte er akzeptiert, dass sein Leben noch lange so weitergehen konnte, und er hatte seinen Frieden damit geschlossen. Doch er ahnte nicht, dass ein Täubchen mit einem glücksverheißenden Brief im Schnabel auf dem Weg zu ihm war. Im Zentrum Pjöngjangs auf den Weg geschickt, flatterte es über den Taedong, der sich rein und grün durch die Stadt schlängelt, während Patrioten und Jungfrauen Hand in Hand an seinem Ufer entlangspazierten. Die Brieftaube machte einen Schlenker durch einen Trupp Juche-Mädchen, die beschwingt in ihren entzückenden Uniformen mit der geschulterten Axt in Richtung Mansu-Park zum Holzhacken eilten. Mit stolzgeschwellter weißer Brust schlug die Taube einen Looping über dem Stadion 1. Mai , dem größten Stadion der Welt, und vor Stolz über die riesige rote Flamme des Juche-Turms klatschte sie mit den Flügeln! Nun die Hänge des Taesong hinan, wo das Brieftäubchen die Flamingos und Pfauen des Zoos ehrerbietig grüßte, und dann einen weiten Bogen um den Elektrozaun schlug, der den Botanischen Garten vor dem nächsten amerikanischen Überfall schützen soll. Über dem Friedhof der Revolutionshelden tropfte ihm eine einzige patriotische Träne aus dem Auge, und dann saß unser Täubchen auf Sun Moons Fensterbrett und ließ den Brief in ihre Hand fallen.
Kommandant Ga blickte hoch, als die Falltür zum Tunnelaufging und Sun Moon sich herabbeugte. Ihr Hausmantel verrutschte ein wenig, und die Pracht einer ganzen Nation schien in ihrer
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