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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ihr nach der Schändung durch die Japaner der Schweiß von der Braue rinnt, um sich mondglänzend mit den Tränen auf ihrer Wange zu vereinen und auf ihren patriotischen Busen herabzutropfen. Wie kann eine Träne auf einer solch kurzen Reise als Tropfen des Verderbens beginnen, zu einem Rinnsal der Entschlossenheit werden und schließlich in glühender Vaterlandsliebe vergehen? Und ganz sicher seht ihr das letzte Bild aus Mutterloses Vaterland vor euch, Bürger, in dem die in blutige Gaze gehüllte Sun Moon dem Schlachtfeld mit der von ihr geretteten Flagge entsteigt, während hinter ihr die amerikanische Armee vernichtet und verbrannt am Boden liegt.
    Jetzt stellt euch ihr Haus am Steilhang des Berges Taesong vor. Von unten steigen die reinigenden Düfte der Kimjongilie und der Kimilsungie auf, die in den Gewächshäusern des Botanischen Gartens gezogen werden. Dahinter befindet sich der Zoo, der gewinnbringendste Tiergarten der Welt, in dem über 400 Arten ausgestellt sind, teils lebendig, teils ausgestopft. Stellt euch Sun Moons Kinder vor, die mit ihrem engelsgleichen Wesen das Haus mit ehrwürdiger Sanjo -Musik füllen: Der Junge spielt die Taeg˘um , das Mädchen die Gayageum . Auch unser Filmstar muss sich für die Sache des Volkes engagieren, also weckt sie Seetang ein, sollte uns noch einmal ein Beschwerlicher Marsch bevorstehen. Seetang wird in solchen Mengen an den Strand gespült, dass Millionen damit ernährt werden können; getrocknet dient er als Matratzenfüllung und als Isoliermaterial, er treibt die männliche Potenz ebenso an wie unsere Megawattanlagen. Seht nur Sun Moons schimmernden Chosŏnot , während sie die Gläser auskocht – seht, wie der Dampf ihre weiblichen Kurven glänzen lässt!
    Es klopfte an der Tür. Sonst klopft nie jemand, weil ihr Haus so weit abseits liegt. Wir leben im sichersten Land der Welt, Verbrechen kennen wir hier nicht; Angst hatte sie also nicht, zögerte aber dennoch. Ihr Ehemann, der Held Kommandant Ga, war oft auf gefährlichen Missionen unterwegs, so auch jetzt. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war, und der Regierungsbote stand vor der Tür, um ihr eine schlimme Nachricht zu überbringen? Ihr war klar, dass Ga mit Leib und Seele seinem Land, seinem Volk gehörte und sie ihn nicht für sich allein beanspruchen durfte – und doch tat sie es. So groß war ihre Liebe, hilflos war sie ihr ausgeliefert.
    Die Tür öffnete sich, und Kommandant Ga stand vor ihr. Seine Uniform war makellos, an seine Brust waren der Scharlachrote Stern und die Ewige Juche-Flamme geheftet. Er trat ein und entkleidete Sun Moon mit seinem schamlosen Blick. Dreist begaffte er ihre anmutigen Rundungen unter dem Hausmantel, und seine Augen folgten jedem Beben ihrer Brust. Seht nur her, wie dieser Feigling die koreanische Sittsamkeit Sun Moons besudelte!
    Unsere werten Hörer mögen denken: Warum wird der Held Kommandant Ga hier als Feigling bezeichnet? Ist Kommandant Ga nicht berühmt dafür, dass er sechs Überfallkommandos durch die Tunnel der DMZ führte? Ist er nicht der Träger des Goldgurts im Taekwondo, dem tödlichsten Kampfsport der Welt? Gewann Ga nicht den Filmstar Sun Moon zur Frau, Heldin von Unsterbliche Hingabe und Sturz der Unterdrücker ?
    Die Antwort lautet: Dies ist nicht der echte Kommandant Ga! Betrachtet das Foto des echten Kommandanten Ga, das hinter dem Hochstapler an der Wand hängt. Der Mann aufdem Bild hat breite Schultern, wulstige Augenbrauen und Zähne, die vom zornigen Mahlen abgewetzt sind. Schaut euch im Vergleich dazu das spindeldürre Männchen an, das da in der Uniform des Kommandanten steckt – mit Hühnerbrust, Mädchenohren, kaum eine Nudel in der Hose. Es ist auf jeden Fall eine Beleidigung, diesen Hochstapler Kommandant Ga zu nennen, doch für den Anfang unserer Geschichte soll es genügen.
    Er herrschte sie an: »Ich bin Kommandant Ga, und so wirst du mich auch behandeln!«
    Auch wenn alle Instinkte Sun Moon sagten, dass das nicht wahr sein konnte, tat sie recht daran, ihre Intuition hintanzustellen und sich der Führung des Regierungsbeamten anzuvertrauen – es stand ja immerhin ein Mann vom Rang eines Ministers vor ihr. Im Zweifelsfall ist es stets ratsam, sich Höherrangigen zu fügen.
    Doch zwei geschlagene Wochen lang blieb sie ihm gegenüber misstrauisch. Er musste beim Hund unten im Tunnel schlafen, den er nur verlassen durfte, um die Brühe zu schlürfen, die sie ihm einmal am Tag vorsetzte. Sein Körper war mager, doch er klagte nicht über die

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