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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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»Warum erzählst du mir das?«
    »Ihr Mann war weg«, antwortete Kommandant Ga. »IhrMann ist ins Licht verschwunden. Wenn es im Lager nicht mehr auszuhalten war, habe ich versucht, an sie zu denken, an meine Beinahe-Frau, um stark zu bleiben.« Der Kapitän mit der Tätowierung seiner Frau auf der uralten Brust tauchte vor seinem inneren Auge auf – wie bläulich verwaschen die ursprünglich schwarze Tinte geworden war. Sie war unter der Haut des alten Mannes verlaufen, und das gestochen scharfe Bild war zum Aquarell verschwommen – zu einem bloßen Schatten der geliebten Frau. So war es ihm im Gefängnis mit der Frau des Zweiten Maats gegangen – ihr Bild war immer unschärfer geworden und ihm ganz allmählich aus dem Gedächtnis entschwunden. »Dann habe ich dich auf der Leinwand gesehen, und mir wurde klar, dass sie gar nicht so außergewöhnlich war. Sie konnte singen, sie war ehrgeizig, aber du hast mir gezeigt, dass sie nur beinahe eine Schönheit war. In Wirklichkeit war es dein Gesicht, das ich sah, wenn ich an die Frau dachte, die in meinem Leben fehlt.«
    »Diese Beinahe-Frau«, fragte Sun Moon. »Was ist aus ihr geworden?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Nichts?«, fragte sie. »Du hast sie nie wieder gesehen?«
    »Wo hätte ich sie sehen sollen?«, fragte er.
    Ihm war es nicht aufgefallen, aber Sun Moon hatte bemerkt, dass ihre Kinder mit dem Üben aufgehört hatten. Sie ging zur Tür und schimpfte mit ihnen, bis sie wieder anfingen.
    Sie schaute ihn an. »Du solltest mir wohl erzählen, warum du ins Lager gekommen bist.«
    »Ich war in Amerika, wo mein Geist vom Kapitalismus besudelt wurde.«
    »In Kalifornien?«
    »Texas«, antwortete er. »Da habe ich den Hund her.«
    Sie verschränkte die Arme. »Das gefällt mir alles gar nicht«, sagte sie. »Du gehörst sicher zum Plan meines Mannes, er muss dich als Double oder so etwas geschickt haben – sonst hätten dich seine Freunde längst umgebracht. Ich verstehe nicht, warum du hier sein und mir solche Dinge erzählen kannst, und dich hat noch keiner halb totgeschlagen.«
    Sie schaute hinunter auf Pjöngjang, als wäre die Antwort dort unten zu finden. Die Gefühle huschten ihr übers Gesicht wie wechselndes Wetter – Unsicherheit, als würden Wolken die Sonne verdecken, dann blitzte Reue auf, ihre Lider zuckten, als würden die ersten Regentropfen niedergehen. Sie war eine große Schönheit, das war unbestritten, aber jetzt stellte er fest, dass er sich im Lager aus einem ganz anderen Grund in sie verliebt hatte: Weil alles, was in ihrem Herzen vorging, sofort auf ihrem Gesicht abzulesen war. Darin bestand ihre große Kunst, in dieser außergewöhnlichen Eigenschaft. Man bräuchte zwanzig Tätowierungen, um all ihre Stimmungen einzufangen. Dr. Song hatte es bis nach Texas geschafft, wo er ein Barbecue miterlebt hatte. Gil hatte Whiskey geschlürft und eine japanische Kellnerin zum Lachen gebracht. Und er – er stand hier, auf Kommandant Gas Balkon, neben Sun Moon, deren Gesicht nass von Tränen war, und zu seinen Füßen lag Pjöngjang. Was von nun an mit ihm geschehen würde, spielte keine Rolle mehr.
    Er lehnte sich zu ihr hinüber. Das würde den Augenblick vollkommen machen: Sie zu berühren. Ihr eine Träne von der Wange wischen zu dürfen, würde ihn für alles entschädigen.
    Sie beäugte ihn argwöhnisch. »Du hast etwas über den Mann deiner Beinahe-Frau gesagt. Du hast gesagt, er wäre ins Licht entschwunden. Hast du ihn getötet?«
    »Nein«, erwiderte er. »Der Mann hat Republikflucht begangen. Er ist mit einem Rettungsboot geflüchtet. Als wir ihngesucht haben, stand die aufgehende Sonne so hell über dem Wasser, dass es aussah, als hätte ihn das Licht verschluckt. Er hatte das Bild seiner Frau auf die Brust tätowiert, sodass er sie immer bei sich hatte, auch wenn sie ohne ihn zurückblieb. Ich würde das nie tun – dich alleine zurücklassen.«
    Die Antwort gefiel ihr nicht, genauso wenig wie sein Ton, das merkte er. Doch seine Geschichte war jetzt auch Teil ihrer Geschichte. Daran ließ sich nichts ändern. Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren.
    »Komm mir nicht zu nah«, warnte sie ihn.
    »Bei deinem Mann, falls du das wissen willst, war es die Dunkelheit«, sagte er. »Dein Mann ist ins Dunkel verschwunden.«
    Von irgendwo unten hörte man das Dröhnen eines Lkws. Es kamen selten Fahrzeuge den Berg hoch, weshalb Ga hinunter in den Wald starrte und hoffte, durch eine Baumlücke einen Blick darauf zu

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