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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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erhaschen.
    »Du kannst unbesorgt sein«, verkündete Ga. »Die Sache ist nämlich die: Der Geliebte Führer hat einen Auftrag für mich. Wenn der abgeschlossen ist, wirst du mich vermutlich nie wiedersehen.«
    Er schaute sie an, um zu sehen, ob sie ihn verstanden hatte.
    »Ich habe jahrelang mit dem Geliebten Führer zusammengearbeitet«, sagte sie. »Zwölf Spielfilme. Bei ihm kann man sich nie sicher sein.«
    Das Dröhnen wurde immer lauter, ein schwerer Diesel mit einem deutlichen Knirschen im Getriebe. Nebenan trat Genosse Buc auf seinen Balkon und starrte hinunter in den Wald. Er brauchte das Fahrzeug nicht zu sehen, um zu wissen, was los war. Er und Ga warfen sich sorgenvolle Blicke zu.
    Genosse Buc rief ihnen zu: »Kommt zu uns herüber, wir haben nicht viel Zeit!«
    Dann ging er ins Haus.
    »Was ist das?«, fragte Sun Moon.
    Ga erwiderte: »Eine Krähe.«
    »Was ist eine Krähe?«
    Sie standen am Geländer und warteten, dass das Fahrzeug auf der Straße sichtbar wurde. »Das da«, zeigte er, als die schwarze Abdeckplane zwischen den Bäumen auftauchte. »Das ist eine Krähe.« Einen Moment schauten sie dem Wagen zu, der sich langsam die Serpentinen zu ihrem Haus hocharbeitete.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte sie.
    »Da gibt es nichts zu verstehen«, entgegnete er. »Das ist der Laster, der Leute abholt.«
    Im Lager 33 hatte er oft darüber nachgedacht, was er aus dem Flugzeughangar mitgenommen hätte, wenn er auch nur geahnt hätte, dass er auf dem Weg in ein Straflager war. Eine Nadel, einen Nagel, eine Rasierklinge – was hätte er im Lager für so etwas gegeben! Aus einem einfachen Stück Draht hätte er eine Vogelfalle fabrizieren können. Ein Gummiband hätte man als Auslöser für eine Rattenfalle benutzen können. Wie oft hatte er sich einen Löffel zum Essen gewünscht. Aber jetzt hatte er andere Sorgen.
    »Du gehst mit den Kindern in den Tunnel«, sagte Ga. »Ich geh raus zu dem Wagen.«
    Sun Moon sah Ga mit schreckgeweiteten Augen an.
    »Was geht hier vor sich?«, wollte sie wissen. »Wohin bringt einen dieser Wagen?«
    »Was denkst du denn, wo er einen hinbringt?«, fragte er. »Wir haben keine Zeit. Schaff du die Kinder nach unten. Die sind hinter mir her.«
    »Ich gehe nicht allein da runter«, sagte sie. »Ich war noch nie da unten. Du kannst uns nicht allein in irgendeinem Loch sitzenlassen.«
    Genosse Buc trat wieder hinaus auf seinen Balkon. Er knöpfte sich den Hemdkragen zu. »Kommt rüber«, rief er und warf sich eine schwarze Krawatte um den Hals. »Wir sind fertig. Die Zeit ist knapp, ihr müsst zu uns kommen!«
    Stattdessen ging Ga in die Küche und blieb vor dem Waschbottich auf dem Boden stehen. Der Bottich war auf einer Falltür befestigt, unter der sich die Leiter in den Tunnel befand. Ga klappte die Tür auf, atmete tief durch und stieg hinunter. Er versuchte, nicht an den Mineneingang im Straflager 33 zu denken, durch den er das Bergwerk jeden Morgen im Dunkeln betreten und jeden Abend im Dunkeln verlassen hatte.
    Sun Moon kam mit den Kindern nach. Ga half ihnen hinunter und zog an der Strippe, mit der das Licht eingeschaltet wurde. Bevor Sun Moon herunterstieg, sagte er zu ihr: »Hol die Waffen.«
    »Nein«, erwiderte sie. »Keine Waffen.«
    Ga half ihr nach unten und machte die Falltür zu. Ihr Mann hatte einen Draht zurechtgebastelt, mit dem man den Pumpenschwengel bedienen konnte, sodass sich der Bottich mit ein paar Litern Wasser füllte und den Eingang tarnte.
    Sie blieben einen Moment zu viert neben der Leiter stehen, während die Glühbirne am Kabel hin und her schwang, und konnten nichts sehen. Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sagte Sun Moon: »Kommt, Kinder«, und nahm sie bei den Händen. Sie gingen in die Dunkelheit hinein, nur um festzustellen, dass der Tunnel nach fünfzehn Metern zu Ende war und gerade mal bis unter die Straße reichte.
    »Wo geht es weiter?«, fragte Sun Moon. »Wo geht es nach draußen?«
    Ga ging ein paar Schritte auf sie zu, in die Dunkelheit hinein, blieb dann aber stehen.
    »Es gibt keinen Fluchtweg?«, fragte sie. »Keinen Ausgang?« Sie kam auf ihn zu und sah ihn fassungslos an. »Was hast du all die Jahre hier unten gemacht?«
    Ga wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Jahrelang«, sagte sie. »Ich dachte, hier unten wäre ein ganzer Bunker! Ich dachte, es gibt ein richtiges Tunnelsystem. Was hast du bloß die ganze Zeit hier gemacht?« An den Wänden reihten sich ein paar Säcke Reis und mehrere Getreidefässer mit

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