Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
sah ein Netz aus improvisierten Verstrebungen und aufgeschweißten Halterungen, die die selbstgebaute Karosserie mit dem Chassis eines sowjetischen Lada verbanden. Ausgestattet war der Wagen mit einem Mercedes-Motor.
Genosse Buc trat zu ihm. Er war offensichtlich bester Laune, erleichtert, überschwänglich geradezu. »Das ist ja fantastisch gelaufen da drinnen«, sagte er. »Ich wusste, dass wir die Pfirsiche nicht brauchen würden, ich hatte so ein Gefühl.Trotzdem ist das gut für die Kinder, so ein Trockenlauf. Übung macht den Meister.«
»Was haben wir denn gerade geübt?«, fragte ihn Ga.
Buc lächelte nur ungläubig und drückte Ga eine ungeöffnete Büchse Pfirsiche in die Hand.
»Für dich, falls mal schlechte Zeiten kommen«, erklärte Buc. »Ich war dabei, als wir die Konservenfabrik 49 geschlossen haben, bevor sie abgefackelt wurde. Ich habe mir die letzte Kiste vom Fließband geholt.« Buc schüttelte immer noch beeindruckt den Kopf. »Du scheinst ja gegen alles gefeit zu sein, mein Freund«, sagte er. »Du hast etwas geschafft, was ich noch nie gesehen habe, und da wusste ich einfach, dass uns nichts passieren würde. Ich wusste es!«
Gas Augen waren gerötet, seine Haare voller Staub.
»Was habe ich denn geschafft?«, wollte er wissen.
Genosse Buc deutete auf das Auto, das Haus. »Das hier«, sagte er. »Das, was du machst.«
»Was mache ich denn?«
»Es gibt kein Wort dafür«, erwiderte Buc. »Es gibt kein Wort, weil es noch nie jemand getan hat.«
*
Sun Moon schloss sich für den Rest des Tages mit den Kindern im Schlafzimmer ein; es herrschte die Art von Stille, die nur der Schlaf schenkt. Selbst die Nachmittagsnachrichten aus dem Lautsprecher konnten sie nicht wecken. Unten im Tunnel war Kommandant Ga allein mit seinem Hund, der aus dem Maul nach rohen Zwiebeln stank und ein Kunststück nach dem anderen vollführte.
Als die tiefstehende Sonne sich schließlich rostrot verfärbte und der Dunst sich hell wie Bernstein im Fluss spiegelte, tauchte die Familie wieder auf. Sun Moon trug einen festlichen, platinfarbenen Chosŏnot , der so edel war, dass die Seide im einen Moment wie zerstoßene Diamanten schimmerte und im nächsten dunkel wirkte wie Ruß. Die Goreum -Schleife war mit Perlen bestickt. Während sie den Tee vorbereitete, nahmen die Kinder auf einem Podest Platz, um ihre Instrumente zu spielen. Das Mädchen nahm die antike Gayageum , die offenbar noch aus höfischen Zeiten stammte. Sie zupfte im traditionellen Sanjo -Stil, ohne die Handgelenke abzulegen. Der Junge versuchte, sie auf seiner Taeg˘um zu begleiten, so gut er konnte. Seine Lunge war noch nicht kräftig genug für die schwierig zu spielende koreanische Querflöte, und weil seine Hände noch zu klein waren, um die höheren Töne zu greifen, sang er sie stattdessen.
Sun Moon kniete vor Kommandant Ga und begann mit der japanischen Teezeremonie. Während sie den Tee aus einer Erlenholzschachtel nahm und in einer Bronzeschale aufgoss, sagte sie: »Lass dich von diesen Gegenständen nicht täuschen«, und wies auf das Tablett, die Teeschalen, den Teebesen und den Schöpflöffel. »Sie sind nicht echt. Das sind nur Requisiten aus meinem letzten Film, Die Trostfrau . Leider ist er nie ins Kino gekommen.« Sie goss heißes Wasser in ein Bambusschälchen und schwenkte es, um es anzuwärmen – natürlich im Uhrzeigersinn. »Im Film muss ich den japanischen Offizieren den Nachmittagstee bereiten, bevor sie sich für den Rest des Abends über mich hermachen.«
»Bin ich in dieser Geschichte die Besatzungsmacht?«, fragte er.
Sie drehte seine Schale langsam in ihren Händen und wartete, bis der Tee ausreichend gezogen hatte. Bevor sie ihm die Schale reichte, hauchte sie einmal über die Oberfläche und prüfte, wie sie sich kräuselte. Der weite Rock ihres Chosŏnot lag schimmernd um sie ausgebreitet. Sie reichte ihm seinen Tee und verneigte sich dann vor ihm bis auf den Boden, sodass ihre Figur voll zur Geltung kam.
Mit der Wange auf den Dielen sagte sie: »Es war nur ein Film.«
Während Sun Moon seine eleganteste Uniform heraussuchte, trank Ga seinen Tee und lauschte der Musik. Auf der Westseite fiel das Licht schräg ein, und es war, als habe man freie Sicht bis nach Namp'o und zur Koreabucht. Das Lied der Kinder war einfach, aber gewandt, und wenn sie die Töne einmal nicht trafen, machte das die Musik angenehm spontan. Sun Moon kleidete Ga an und heftete ihm die passenden Orden an die Brust. »Dieser hier«, sagte sie,
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