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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Aufwärmübungen nicht laut genug waren, ging sie in die Küche, wo der Lautsprecher lief und sie mit Sicherheit nicht überhört werden konnte. Ga folgte ihr und sah, wie sie das Gesicht verzog, als aus dem Lautsprecher die neue Operndiva mit Ein Meer von Blut zu hören war.
    Sun Moon nahm ihm den Revolver ab. Sie öffnete die Trommel und vergewisserte sich, dass die Kammern leer waren. Dann deutete sie mit dem Griff auf ihn. »Ich muss wissen, wie du an diese Pistole gekommen bist«, sagte sie.
    »Das ist eine Sonderanfertigung«, erwiderte er. »Ein Einzelstück.«
    »Oh, ich kenne diese Waffe gut. Sag mir, wer sie dir gegeben hat.«
    Sie schob einen Stuhl an den Küchenschrank und stieg darauf. Sie langte weit nach oben und verstaute die Waffe im obersten Fach.
    Er beobachtete, wie sich ihr Körper unter dem Chosŏnot streckte. Der Saum hob sich und gab ihre Knöchel frei, sie balancierte auf den Zehenspitzen. Er schaute hoch zum Schrank und fragte sich, was sonst noch darin sein mochte. Die Pistole von Kommandant Ga lag auf dem Rücksitz des Mercedes, trotzdem fragte er: »Trug dein Mann eine Waffe?«
    »Trägt«, verbesserte sie ihn.
    »Trägt dein Mann eine Waffe?«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, gab sie zurück.»Ich kenne die Waffe, die du mitgebracht hast. Sie hat schon in einem halben Dutzend Filmen als Requisite gedient. Es ist die Pistole mit Perlmuttgriff, die der kaltblütige amerikanische Offizier mit dem Cowboy-Gehabe immer benutzt, um die Zivilisten zu erschießen.«
    Sie stieg vom Stuhl und schob ihn zurück an den Tisch. Kratzer auf dem Boden zeugten davon, dass sich diese Szene schon häufiger abgespielt hatte.
    »Dak-Ho hat sie dir aus dem Requisitenlager geholt«, sagte sie. »Entweder will er mir damit irgendetwas sagen, oder hier spielt sich etwas ab, was ich nicht verstehe.«
    »Der Geliebte Führer hat sie mir gegeben.«
    Sun Moon machte ein gequältes Gesicht. »Ich kann diese Stimme nicht ertragen«, klagte sie. Die neue Diva war bei der Arie zum Andenken an den Märtyrertod der Scharfschützen von Myohyang angelangt. »Ich muss hier raus«, stöhnte sie und trat hinaus auf den Balkon.
    Er folgte ihr in die warme Nachmittagssonne. Der Blick vom Taesong ging über ganz Pjöngjang hinweg. Unter ihnen kreisten die Schwalben über dem Botanischen Garten. Auf dem Friedhof bereiteten sich alte Menschen auf ihren Tod vor, indem sie, mit Wachspapierschirmen gegen die Sonne geschützt, die Gräber der Verstorbenen besuchten.
    Sun Moon rauchte eine Zigarette, ihre Augen wurden feucht, und schon bald verlief ihre Schminke. Er stand neben ihr am Geländer. Er wusste nicht, woran man erkennt, ob eine Schauspielerin tatsächlich weint. Er wusste nur eins: Ob echt oder gespielt, die Tränen galten nicht ihrem Ehemann. Vielleicht weinte sie, weil sie siebenunddreißig war oder weil keine Freunde mehr zu Besuch kamen oder wegen der Art, wie ihre Kinder beim Spielen die Püppchen bestraften, wenn sie nicht brav waren.
    »Der Geliebte Führer hat mir erzählt, dass er an einer neuen Filmrolle für dich arbeitet.«
    Sun Moon drehte den Kopf weg und blies den Rauch aus. »Im Herzen des Geliebten Führers ist nur noch Platz für die Oper«, sagte sie und bot ihm den letzten Zug an.
    Ga nahm die Zigarette und inhalierte.
    »Ich wusste, dass du vom Land bist«, bemerkte sie. »Schau doch, wie du die Zigarette hältst. Was weißt du schon vom Geliebten Führer und davon, ob es einen neuen Film geben wird oder nicht?«
    Ga griff nach ihren Zigaretten und zündete eine neue an, für sich selbst.
    »Früher habe ich geraucht«, sagte er. »Aber im Gefängnis habe ich es mir abgewöhnt.«
    »Sollte mir das etwas sagen, im Gefängnis ?«
    »Dort haben sie uns einen Film gezeigt. Eine wahre Tochter des Vaterlands .«
    Sie lehnte sich zurück und stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer. Ihre Schultern hoben sich, ihre Hüftknochen zeichneten sich unter dem weißen Chosŏnot ab. Sie sagte: »Ich war noch ein Kind, als ich diesen Film gedreht habe. Ich hatte keine Ahnung von der Schauspielerei.«
    Sie schaute ihn fragend an, als wolle sie wissen, wie die Häftlinge den Film gefunden hatten.
    »Ich habe früher am Meer gelebt«, sagte er. »Für eine kurze Zeit hatte ich mal beinahe eine Ehefrau. Es hätte etwas werden können. Sie war die Frau eines Schiffskameraden, eine ziemliche Schönheit.«
    »Aber wenn sie seine Frau war, war sie doch schon verheiratet«, sagte Sun Moon und sah ihn verwirrt an.

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