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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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los?«
    Mit einem kurzen Seitenblick registrierte er die Ungläubigkeit, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. War sie nie so hungrig gewesen, dass sie eine Blume gegessen hatte? Wusste sie nicht, dass man Gänseblümchen, Taglilien, Stiefmütterchen und Ringelblumen essen konnte? Dass jemand, der am Verhungern war, auch die wunderhübschen Blüten der Veilchen und sogar die bitteren Stängel vom Löwenzahn und die wattigen Hagebutten verschlingen würde?
    Sie fuhren über die Chongnyu-Brücke, dann weiter durch den südlichen Teil der Stadt und überquerten den Fluss erneut an der Yanggak-Insel. Es war Zeit fürs Abendessen, und der Geruch von Holzfeuern lag in der Luft. Im Zwielicht erinnerte ihn der Taedong an das Wasser im Grubenschacht, dunkel wie Erz und eiskalt. Er folgte ihrer Anweisung, die Sŏsŏng-Straße in Richtung Pot'ong zu nehmen, doch zwischen den dicht an dicht stehenden Wohnblöcken an der Chollima knallte etwas auf ihre Motorhaube. Ein Schuss, dachte er zuerst, oder irgendein Zusammenstoß. Ga hielt mitten auf der Straße an, beide stiegen aus und ließen die Türen offen stehen.
    Die Straße war breit und unbeleuchtet, nirgends war ein anderes Auto zu sehen. Es war die Stunde der Abenddämmerung, in der Blau und Grau miteinander verschmolzen. Am Straßenrand standen Leute, die Rüben grillten – der bittereRauch hing hüfthoch über dem Boden. Die Leute liefen beim Auto zusammen, weil sie sehen wollten, was passiert war. Auf der Motorhaube lag ein junges Zicklein, die Hörner kleine Stummel, die Augen unstet und feucht. Einige der Umstehenden schauten nach oben zu den Dächern, auf denen weitere Tiere grasten, während am Himmel die ersten Sterne erschienen. Blut war nicht zu sehen, doch die kleinen Augen des Zickleins wurden glasig und füllten sich mit Blut. Sun Moon hielt sich die Hände vors Gesicht, und Ga legte ihr die Hand auf die Schulter.
    Plötzlich stürzte eine junge Frau aus der Menge vor. Sie griff sich das Zicklein und flüchtete in rasendem Tempo die Straße hinunter. Von hinten sahen sie nur noch den wackelnden Kopf der Ziege, deren blutiger Speichel der Frau den Rücken herunterlief. Dann bemerkte er, dass die Menge nun ihn anstarrte. Für sie war er in seiner schicken Uniform mit seiner schönen Frau ein Yangban .
    *
    Sie kamen mit Verspätung im Großen Opernhaus des Volkes an. Es war fast leer, bis auf ein paar Dutzend Paare, die in kleinen Grüppchen zusammenstanden. Ihre Gespräche wurden von den hohen Decken, den rauschenden schwarzen Seidenvorhängen und maulbeerfarbenen Teppichen zu einem leisen Gemurmel gedämpft. Auf einem der oberen Ränge stand ein Tenor. Mit gefalteten Händen sang er »Arirang«, während unten die Menschen trotz der Getränke und Delikatessen nur mühsam die Leere zu füllen vermochten, bis sie mit der geistreichen Gegenwart des Geliebten Führers belohnt wurden.
    » Arirang, Arirang «, sang der Tenor. » Aa-raa-rii-yoo .«
    »Das«, erklärte ihm Sun Moon, »ist Dak-Ho. Er leitet dasZentrale Filmstudio. Aber eine sehr schöne Stimme hat er, das muss man ihm lassen.«
    Kommandant Ga und Sun Moon gingen zögerlich auf die anderen Paare zu. Wie schön sie war, als sie den Raum mit kleinen Schritten durchquerte und der Faltenwurf der koreanischen Seide ihre Figur so perfekt umschmeichelte!
    Die Männer erwiderten Sun Moons Gruß als Erste. In ihren Ausgehuniformen und Parteianzügen zeigten sie ihr goldenes Lächeln, gerade so, als hätte Sun Moon nicht lange Zeit durch Abwesenheit von der Welt der Yangbans geglänzt. Die geplatzte Premiere ihres letzten Films und ihr Erscheinen mit einem Fremden in der Uniform ihres Mannes schienen sie nicht zu interessieren. Als wäre all das kein Zeichen, dass sie eine aus ihren Reihen verloren hatten. Die Frauen dagegen zeigten offene Häme – vielleicht dachten sie, wenn sie sich geschlossen gegen Sun Moon stellten, würden sie von ihr nicht mit der Krankheit angesteckt, die sie am meisten fürchteten.
    Abrupt blieb Sun Moon stehen und drehte sich zu Ga um, als hätte sie das plötzliche Verlangen, ihn zu küssen. Sämtlichen Frauen den Rücken zugewandt, blickte sie Ga in die Augen, als würde sie ihr eigenes Spiegelbild darin suchen. »Ich bin eine talentierte Schauspielerin und du bist mein Ehemann«, sagte sie. »Ich bin eine talentierte Schauspielerin und du bist mein Ehemann.«
    Ga schaute in ihre verunsicherten, nervösen Augen.
    »Du bist eine talentierte Schauspielerin«, bestätigte er. »Und ich

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