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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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fehlen in der Maschine.«
    »Ich versprech’s dir«, sagte Jun Do. »Komm mit, und niemand wird es je erfahren.«
    »Die Frage ist doch nicht, ob ich mit dir mitkomme oder nicht«, gab Gil zurück. »Die Frage ist doch, warum du nicht mit mir mitkommst.«
    Hätte Jun Do flüchten wollen, hätte er es schon zig Mal tun können. Nichts einfacher als das: Am Ende jedes Tunnels waren eine Leiter und eine von innen gesicherte Klappe.
    »Das Einzige, was mir in diesem bescheuerten Land bisher eingeleuchtet hat«, sagte Jun Do, »waren die Koreanerinnen, die vor den Japanerinnen auf den Knien lagen und ihnen die Füße saubermachten.«
    »Ich kann dich morgen zur südkoreanischen Botschaft bringen. Es ist nur eine kurze Zugfahrt. In sechs Wochen wärst du in Seoul. Du wärst sehr nützlich für sie, richtig wertvoll.«
    »Was ist mit deiner Mutter, deinem Vater?«, fragte Jun Do. »Sie werden ins Lager geschickt.«
    »Irgendwann kommt jeder dran, ob er ein guter Karaokesänger ist oder nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    »Was ist mit Offizier So – reicht ein bisschen teurer Whiskey, und schon vergisst du, wie er sich im Bergwerk 9 durch die Dunkelheit wühlt?«
    »Gerade wegen ihm solltest du abhauen«, erwiderte Gil. »Damit du nicht so wirst wie er.«
    »Tja, er lässt dich jedenfalls grüßen«, sagte Jun Do, legte Gil die Nylonschlaufe um den Hals und zog sie zu.
    Gil leerte seinen Whiskey. »Ich bin nur ein Mensch«, sagte er. »Ich bin ein Niemand, der raus will.«
    Als die Barkellnerin die Leine sah, schlug sie die Hand vor den Mund und sagte: » Homo janai .«
    »Das brauche ich wohl nicht zu übersetzen«, meinte Gil.
    Jun Do zog an der Leine, und beide standen auf.
    Gil klappte den Malkasten zu und verbeugte sich vor der Barfrau. » Chousenjin ni turesarareru yo «, sagte er zu ihr. Sie zog ihr Handy heraus, machte ein Foto von den beiden und schenkte sich ein Glas ein. Bevor sie trank, prostete sie Gil zu.
    »Mann, diese Japaner«, sagte Gil. »Man muss sie einfach lieben. Ich hab ihr gesagt, ich werde gerade nach Nordkorea entführt, und guck sie dir an.«
    »Ja, guck sie dir gut an«, sagte Jun Do und nahm den Motorradschlüssel von der Theke.
    *
    Hinter der Brandung fuhren sie mit voller Kraft voraus in die vom Wind hochgepeitschten Wogen – das schwarze Schlauchboot erhob sich steil und klatschte dann flach in die Wellentäler. Alle hielten sich an der Rettungsleine fest. Rumina saß im Bug, die Hände mit frischem Klebeband versehen. Offizier So hatte ihr seine Jacke übergehängt – abgesehen davon war sie nackt und blaugefroren.
    Jun Do und Gil saßen sich im Schlauchboot gegenüber, aber Gil wollte ihn nicht ansehen. Als sie im offenen Wasser waren, drosselte Offizier So den Motor so weit, dass man Jun Do hören konnte.
    »Ich hab es Gil versprochen«, sagte er zu Offizier So. »Ich hab ihm gesagt, wir würden einfach vergessen, dass er abhauen wollte.«
    Rumina saß mit dem Rücken im Wind, die Haare flatterten ihr ins Gesicht. »Steckt ihn doch in den Sack.«
    Offizier So lachte laut auf. »Die Operndame hat recht«, sagte er. »Du hast einen Republikflüchtling dingfest gemacht. Der hat uns die Pistole auf die Brust gesetzt. Aber wir waren schlauer. Denk schon mal über deine Belohnung nach. Genieß die Vorfreude.«
    Bei dem Gedanken an eine Belohnung – wie er seine Mutter finden und sie aus ihrem Schicksal in Pjöngjang befreien würde – wurde Jun Do übel. Im Tunnel geriet man manchmal unversehens in eine Gaswolke. Man merkte es nur an den bohrenden Kopfschmerzen und daran, dass die Finsternis plötzlich rot pulsierte. So fühlte er sich jetzt, als Rumina ihn vorwurfsvoll ansah. Er fragte sich auf einmal, ob sie nicht ihn damit gemeint hatte: Dass er in den Sack sollte. Aber er hatte sie ja nicht verprügelt oder hineingestopft. Es war nicht sein Vater, der ihre Entführung angeordnet hatte. Was hatte er schon für eine Wahl? Was konnte er dafür, dass er aus einer Stadt stammte, in der es nicht genug Strom und Heizmaterial und Benzin gab, wo Rost die Fabriken stillgelegt hatte, wo jeder halbwegs taugliche Mann entweder im Arbeitslager saßoder apathisch vor Hunger war. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass alle Waisenkinder in seiner Obhut taub vor Trauer waren und angesichts der Aussicht, dass sie entweder als Gefängniswärter oder im Selbstmordkommando enden würden, nur Hoffnungslosigkeit verspürten.
    Die Schlinge lag noch immer um Gils Hals. Aus reiner Schadenfreude beugte

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