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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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wenn der nicht völlig hirntot war, dann waren er und das Motorrad lange über alle Berge. Als Jun Do endlich an der Whiskeybar um die Ecke bog, glänzte die schwarze Maschine noch immer am Straßenrand. Er warf ein Bein über den Sitz und griff nach dem Lenker. Doch als er unter dem Tankdeckel nachfühlte, war der Schlüssel weg. Er wandte sich der Fensterfront der Bar zu, und da saß Gil und scherzte mit der Kellnerin.
    Jun Do schob sich auf den Hocker neben Gil. Der malte gerade vollkommen konzentriert an einem Aquarellbild. Der Farbkasten war offen, und er tauchte den Pinsel in ein Schnapsglas mit lilagrünem Wasser. Es war eine Landschaft mit einem Bambusdickicht und mehreren Pfaden, die sich durch einen steinigen Acker schlängelten. Gil blickte auf, tauchte den Pinsel wieder ins Wasser und ließ ihn durch das Gelb kreisen, um die Bambusstämme mit hellen Akzenten zu versehen.
    Jun Do sagte zu ihm: »Du bist dumm wie Scheiße.«
    »Selber dumm«, gab Gil zurück. »Ihr habt die Sängerin – wer würde da jetzt noch was von mir wollen?«
    »Ich«, antwortete Jun Do. »Her mit dem Schlüssel.«
    Der Motorradschlüssel lag auf dem Tresen, und Gil schob ihn hinüber.
    Gil bestellte mit einem Fingerkreisen eine neue Runde. Die Barkellnerin kam herüber. Sie trug Ruminas Kette. Gil sagte etwas zu ihr, holte dann die Hälfte seiner Yen aus der Tasche und gab sie Jun Do.
    »Ich hab ihr gesagt, dass du diese Runde ausgibst«, sagte Gil.
    Sie schenkte drei Gläser Whiskey ein und sagte dann etwas, was Gil zum Lachen brachte.
    Jun Do fragte: »Was hat sie gesagt?«
    »Dass du sehr stark aussiehst. Nur schade, dass du so eine Lusche bist.«
    Jun Do sah Gil fragend an.
    Gil zuckte die Achseln. »Na ja, ich hab ihr erzählt, dass wir uns gestritten haben, um ein Mädchen. Ich habe gesagt, ich hätte gewonnen, wenn du mir nicht die Haare ausgerissen hättest.«
    Jun Do sagte: »Noch kannst du raus aus der Sache. Wirsagen nichts, versprochen. Wir fahren einfach zurück, als ob du nie abgehauen wärst.«
    »Sieht es aus, als ob ich abhauen wollte?«, fragte Gil. »Außerdem kann ich meine neue Freundin hier nicht einfach sitzen lassen.«
    Gil reichte ihr das Aquarell, und sie pinnte es zum Trocknen an die Wand, neben ein anderes, auf dem sie mit der rot-weißen Kette um den Hals lächelte. Aus dieser Entfernung erkannte Jun Do plötzlich, dass Gil keine Landschaft, sondern eine liebliche Landminenkarte gemalt hatte.
    »Du warst also auf den Minenfeldern«, sagte er.
    »Meine Mutter hat mich zum Kunststudium nach Mansudae geschickt«, erzählte Gil. »Aber Vater war der Meinung, dass die Minenfelder einen Mann aus mir machen würden, und deswegen hat er seinen Einfluss geltend gemacht.« Gil musste über die Vorstellung lachen, dass jemand seinen Einfluss geltend machte, damit sein Sohn in ein Selbstmordkommando versetzt wurde. »Aber ich habe es hingekriegt, dass ich nicht zum Kartieren, sondern für das Erstellen der Karten eingeteilt wurde.« Während er erzählte, fertigte er im Handumdrehen das nächste Bild, eine Frau mit aufgerissenem Mund, von unten beleuchtet, sodass ihre Augenhöhlen dunkel aussahen. Die Ähnlichkeit mit Rumina war sofort zu erkennen, auch wenn man nicht sagen konnte, ob sie inbrünstig sang oder um ihr Leben schrie.
    »Sag ihr, dass du noch ein Glas willst, dein letztes«, sagte Jun Do und schob alle Yen zu der Bardame hinüber.
    »Es tut mir wirklich leid«, sagte Gil. »Glaub mir. Aber ich komme nicht mit. Betrachte die Opernsängerin als mein Abschiedsgeschenk, mit schönem Gruß von mir.«
    »Ist dein Vater hinter der Sängerin her? Sind wir seinetwegen hier?«
    Gil gab keine Antwort. Er malte ein Doppelporträt von sich und Jun Do, auf dem beide den Daumen hochreckten. Ihre Gesichter waren zu einem grimassenhaften, gezwungenen Lächeln verzogen, und Jun Do wollte das fertige Bild nicht sehen.
    »Gehen wir«, drängte er. »Du willst schließlich nicht zu spät zum Karaoke im Yanggakdo kommen, oder womit ihr Elitejungs euch sonst die Zeit vertreibt.«
    Gil rührte sich nicht vom Fleck. Er betonte Jun Dos Muskeln, malte sie übergroß, wie bei einem Gorilla. »Klar, stimmt schon, ich habe schon mal Rindfleisch und auch schon Strauß gegessen. Ich habe Titanic gesehen und war zehn Mal im Internet. Ja, und Karaoke gibt es auch. Jede Woche ist wieder ein Tisch leer, an dem vorher eine Familie gesessen hat, aber dann sind sie weg, werden nie mehr erwähnt, und die Lieder, die sie gesungen haben,

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