Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
auf ihn ein. »Tief im Innern sind Sie gut, das sehe ich. Lassen Sie mich gehen, und ich singe für Sie. Ich kann ganz unglaublich singen.«
»Ihr Lied lässt mich nicht los«, antwortete Jun Do. »Das mit dem Jungen, der in der Mitte des Sees beschließt, nicht mehr weiterzurudern.«
»Das war nur eine Arie«, sagte sie. »Ein Lied aus einer ganzen Oper voller Verwicklungen, Verrat und Schicksalsschlägen.«
Jun Do beugte sich zu ihr herunter. »Hört der Junge auf zu rudern, weil er das Mädchen gerettet hat und weiß, dass er sie am anderen Ufer seinen Vorgesetzten übergeben muss? Oder hat der Junge das Mädchen gestohlen und weiß, dass er dafür bestraft wird?«
»Es ist eine Liebesgeschichte«, antwortete Rumina.
»Das ist mir klar«, sagte er. »Aber wie geht sie aus? Kann es sein, dass er weiß, dass er jetzt ins Arbeitslager muss?«
Sie blickte ihm suchend ins Gesicht, als wisse er die Antwort.
»Wie endet die Geschichte?«, fragte er. »Was wird aus den beiden?«
»Lassen Sie mich raus, dann sage ich es Ihnen«, flehte sie ihn an. »Machen Sie den Sack auf, dann singe ich das Ende für Sie.«
Jun Do zog den Reißverschluss zu. Er sprach zu dem schwarzen Nylon, wo eben noch ihr Gesicht sichtbar gewesen war. »Lassen Sie die Augen offen«, sagte er. »Ich weiß, dass es nichts zu sehen gibt, aber machen Sie sie nicht zu, egal, was passiert. Dunkelheit und Enge sind nicht Ihre Feinde.«
Er zerrte den Sack bis zum Wasser. Der schäumende Ozean lief ihm kalt in die Schuhe, als er die Wogen nach Offizier So absuchte. Als eine Welle den Strand hochlief und am Sack leckte, schrie die Sängerin los; so einen Schrei hatte Jun Do noch nie vernommen. In einiger Entfernung blitzte eine Taschenlampe auf. Offizier So hatte sie also auch gehört. Ersteuerte das schwarze Schlauchboot auf sie zu, und Jun Do schleppte den Sack durch die Brecher. Gemeinsam rollten sie ihn an den Tragegriffen über die Bordkante.
»Wo ist Gil?«, fragte So.
»Gil ist weg«, sagte Jun Do. »Im einen Moment war er noch da, direkt neben mir, und im nächsten war er weg.«
Sie standen knietief im Waser und hielten das Boot aufrecht. In den Augen des Offiziers glänzten die Lichter der Stadt. »Weißt du, was aus den anderen Offizieren geworden ist?«, fragte er. »Vier Mann haben die Auslandskommandos geleitet. Jetzt bin ich als einziger übrig, die anderen stecken im Straflager 9. Hast du schon mal davon gehört, Tunnelmann? Das ganze Gefängnis ist unter der Erde. Es ist ein Bergwerk, und wer da einmal drin ist, der sieht die Sonne nie wieder.«
»Mir Angst zu machen hilft nichts. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Offizier So fuhr fort: »Am Ausgang des Schachts ist ein Eisentor, und wenn sich das hinter dir schließt, ist es vorbei – drinnen gibt es keinen Aufseher, keinen Arzt, keine Kantine, keine Waschmöglichkeit. Du gräbst in der Dunkelheit, und wenn du auf Erz stößt, dann bringst du’s nach oben, um es durch die Gitterstäbe gegen Essen und Kerzen und Spitzhacken einzutauschen. Nicht mal die Leichen kommen da raus.«
»Was weiß ich, wo er ist«, sagte Jun Do. »Er spricht Japanisch.«
Ruminas Stimme kam aus dem Sack. »Ich kann Ihnen helfen«, sagte sie. »Ich kenne Niigata wie die Linien auf meiner Handfläche. Lassen Sie mich raus und ich schwöre, dass ich ihn finde.«
Sie beachteten sie nicht.
»Was ist das bloß für ein Typ?«
»Das verwöhnte Söhnchen von irgendeinem Minister«, antwortete Offizier So. »Angeblich. Sein Papa hat ihn zu uns geschickt, damit wir einen Mann aus ihm machen. Du weißt schon – die Söhne von Helden sind die schlimmsten Weicheier.«
Jun Do wandte sich ab und betrachtete die Lichter von Niigata.
Offizier So legte Jun Do eine Hand auf die Schulter. »Du hast Soldatengeist«, sagte er. »Wenn ausgeteilt werden muss, teilst du aus.« Er löste den Schulterriemen der Nylontasche und machte einen Henkersknoten hinein. »Gil hat uns eine scheiß Schlinge um den Hals gelegt. Jetzt drehen wir den Spieß um.«
*
Jun Do lief seltsam gelassen zwischen den Lagerhäusern entlang. Jede Pfütze spiegelte dasselbe bisschen Mond, und als ein Bus für ihn anhielt, warf der Fahrer nur einen Blick auf ihn und verlangte kein Geld. Abgesehen von zwei alten Koreanern hinten war der Bus leer. Sie hatten immer noch ihre weißen Papiermützen auf – Köche in einem Schnellrestaurant. Jun Do sprach sie an, aber sie schüttelten nur den Kopf.
Ohne das Motorrad konnte Jun Do Gil unmöglich finden. Aber
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