Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
sind.«
»Nichts«, erwiderte Sun Moon.
Ga betrat den Märtyrerfriedhof zum ersten Mal. Sun Moon ging an allen anderen Grabsteinen einfach vorbei und führte sie geradewegs zur Büste ihres Großonkels. Zu sehen war ein Mann, dessen kantiges Gesicht mit der steilen Stirn fast südkoreanisch wirkte. Die Augen hatte er niedergeschlagen; er strahlte innere Kraft und Ruhe aus.
»Ah«, sagte Ga. »Kang Kung Li. Er preschte unter feindlichem Feuer über eine Brücke in den Bergen. Er riss die Tür von Kim Il Sungs Auto heraus und benutzte sie als Schild.«
»Du hast von ihm gehört?«, fragte sie erstaunt.
»Natürlich«, erwiderte Ga. »Er hat vielen Menschen das Leben gerettet. Manchmal werden Jungen, die gegen die Regeln verstoßen, um Gutes zu tun, nach ihm benannt.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich befürchte fast, dass die Einzigen, die heutzutage noch nach ihm benannt werden, ein paar armselige Waisen sind.«
Stumm vor Staunen wanderte Kommandant Ga durch die Märtyrerreihen. Hier las er die Namen aller Jungen, die er je gekannt hatte, und wenn er jetzt diese Büsten betrachtete, wirkte es, als hätten sie bis ins Erwachsenenalter überlebt – alle hatten Schnurrbärte und herrische Unterkiefer und breite Schultern. Er streichelte ihre Gesichter und fuhr mit dem Finger die in die Marmorsockel gemeißelten Chosŏn'g˘ul-Schriftzeichen nach. Es war, als wären die Waisen nicht mit neun Jahren verhungert oder mit elf bei einem Fabrikunglück umgekommen, sondern wären über zwanzig oder dreißig geworden wie andere Menschen auch. Am Grab von Un Bo Song fuhr Kommandant Ga mit der Hand über die Bronzebüste. Das Metall fühlte sich kalt an. Dieser Bo Song lächelte und trug eine Brille, und Ga streichelte die Märtyrerwange und sagte: »Bo Song.«
Ein Grabmal gab es noch, dass er unbedingt sehen musste, und Sun Moon lief ihm mit den Kindern durch die Gräberreihen hinterher, bis er es gefunden hatte. Die Büste und der Mann standen sich gegenüber, ähnelten einander aber nicht. Ga hatte nicht gewusst, wie es sein würde, endlich seinem Märtyrer ins Gesicht zu sehen, aber jetzt hatte er nur einen Gedanken: Ich bin nicht du. Ich bin ich selbst.
Sun Moon trat neben ihn. »Hat dieser Märtyrer eine besondere Bedeutung für dich?«, fragte sie.
»Ich kannte mal jemanden, der so hieß«, antwortete er.
»Kennst du seine Geschichte?«
»Ja, die ist ganz einfach«, antwortete er. »Obwohl Pak verdorbener Abstammung war und treuloses Blut hatte, schloss er sich der Guerilla im Kampf gegen die Japaner an. Seine Kameraden zweifelten an seiner Loyalität. Um ihnen zu beweisen, dass sie ihm ihr Leben anvertrauen konnten, erhängte er sich.«
»Und diese Geschichte spricht dich an?«
»Den Bekannten von früher«, entgegnete er. »Den hat das angesprochen.«
»Kommt, verschwinden wir. Mehr als einmal im Jahr ertrage ich diesen Friedhof nicht«, sagte sie.
*
Der Junge und das Mädchen hielten gemeinsam die Hundeleine fest, während Brando sie tiefer in den Wald hineinzog. Kommandant Ga entfachte ein kleines Feuer und zeigte den Kindern, wie man ein Dreibein baute, an dem man den Topf über die Flamme hängen konnte. Den Topf füllten sie mit Wasser aus einem Bach. An einer Stelle weitete dieser sich zu einem kleinen Tümpel aus, und sie verengten den Ausfluss mit Steinen. Dort spannte Ga sein Hemd wie ein Sieb auf, während die Kinder im Wasser herumplantschten und die Fische aufzuscheuchen versuchten. Ein zehn Zentimeter langer junger Saibling blieb im Hemd hängen. Vielleicht war er auch schon ausgewachsen, und die Fische hier waren verkümmert. Mit einem Löffel schuppte Ga den Fisch, nahm ihn aus und steckte ihn auf einen Stock, damit Sun Moon ihn grillen konnte. Wenn er außen schön schwarz angekohlt war, kam er mit dem Salz in die Brühe.
Im Wald gab es viele wild wachsende Blumen, wahrscheinlich wegen der Nähe zu den Grabsträußen. Er zeigte den Kindern, wie die Speisechrysantheme aussah; die pflückten sie und zerquetschten die Stängel zwischen zwei Steinen. Hinter einem dicken Fels wuchs ein Straußfarn mit saftigen jungen Trieben, die sich zwischen den Blattwedeln ringelten. Dann hatten sie richtig Glück: Unten an einem Felsen entdeckten sie Seogi -Steinohr. Mit einem angespitzten Stock kratzten sie die Flechten ab, die salzig wie Algen schmeckten. Ga erklärte den Kindern, woran man Schafgarbe erkennt, und als alle mitsuchten, fanden sie einen kleinen, unglaublich scharfen wilden Ingwer.
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