Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Offizier So sich vor und riss daran, um zu spüren, wie sie sich zuzog. »Ich würde dich ja eigenhändig über Bord werfen«, höhnte er. »Aber dann würde ich verpassen, was sie mit dir anstellen.«
Gil zuckte vor Schmerz zusammen. »Jun Do weiß jetzt, wie der Hase läuft«, konterte er. »Er ersetzt Sie, und Sie werden ins Lager geschickt, damit Sie nie über diese ganzen Entführungen reden können.«
»Du hast doch keine Ahnung«, höhnte Offizier So weiter. »Du bist ein elender Schwächling. Ich habe das Spielchen erfunden. Ich höchstpersönlich habe Kim Jong Ils Sushi-Chef entführt. Ich habe den Leibarzt des Geliebten Führers eigenhändig aus einem Krankenhaus in Osaka gekidnappt, am helllichten Tag.«
»Sie wissen nicht, wie es in Pjöngjang läuft«, wehrte sich Gil. »Sobald die anderen Minister die Opernsängerin sehen, wollen sie auch alle eine haben.«
Eiskalte, weiße Gischt klatschte ihnen ins Gesicht. Rumina holte erschrocken Luft. Wieder funkelte sie Jun Do an. Er merkte, dass sie etwas sagen wollte – ein Wort begann sich auf ihren Lippen abzuzeichnen.
Er klappte die Brille auseinander und setzte sie auf – jetzt sah er die blauen Flecken an ihrem Hals und wie lila und angeschwollen ihre Hände von dem Klebeband um ihre Handgelenke waren. Er sah einen Ehering, eine Kaiserschnittnarbe. Unentwegt starrte sie ihn wütend an. Diese Augen wussten,welche Entscheidungen Jun Do getroffen hatte. Sie wussten, dass es Jun Do gewesen war, der entschieden hatte, welche Waisen zuerst zu essen bekamen und für wen nur ein paar wässrige Löffel voll übrig blieben. Sie wussten, wem er die Schlafstellen neben dem Ofen zugeteilt hatte und wem diejenigen ganz hinten im Schlafraum, wo Erfrierungen lauerten. Er hatte die Jungen ausgewählt, die am Lichtbogenofen erblindet waren. Er hatte die Jungen ausgesucht, die in der Chemiefabrik waren, als diese den ganzen Himmel gelb färbte. Er hatte Ha Shin, den Jungen, der nicht sprach, der nicht nein sagen würde, zum Säubern der Bottiche in die Farbenfabrik geschickt. Jun Do war es gewesen, der Bo Song den Fischhaken in die Hand gedrückt hatte.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er sie flehend. Er musste es unbedingt wissen, genau wie er wissen musste, was am Ende der Arie aus dem Mädchen und dem Jungen wurde.
Sie hob den Fuß und hielt Jun Do ihre Zehennägel vor die Nase. Rot glänzte der Lack in der silbrigschwarzen Nacht. Ein einziges Wort sagte sie, dann stieß sie ihm den Fuß ins Gesicht.
Das Blut war dunkel. Es tröpfelte auf sein Hemd, das vorher der Mann getragen hatte, den sie vom Strand gepflückt hatten. Ihr großer Zehennagel hatte ihn ins Zahnfleisch geschnitten, aber es war in Ordnung, er fühlte sich besser, jetzt wusste er, was sie zu ihm gesagt hatte. Auch ohne Japanisch verstand er es: »Stirb!« Er war sich sicher, dass so auch die Oper zu Ende ging. Das war das Schicksal des Jungen und des Mädchens in dem Boot. Aber es war eigentlich keine traurige Geschichte. Es war eine Liebesgeschichte – die beiden wussten wenigstens, was aus dem anderen geworden war, und waren nie mehr allein.
ES SOLLTEN NOCH viele Entführungen folgen – jahrelang ging es so weiter. Da war die alte Frau, die sie in einem Gezeitentümpel auf der Insel Nishino trafen. Sie hatte die Hosenbeine hochgerollt und das Auge an einen Fotoapparat gedrückt, der auf drei Holzbeinen stand. Ihre Haare waren grau und wild, und sie kam ohne Widerstand mit, im Austausch gegen Jun Dos Porträt. Und dann der japanische Klimatologe, den sie auf einem Eisberg in der Tsugaru-Straße überraschten. Seine wissenschaftliche Ausrüstung und sein rotes Kajak schnappten sie sich auch. Sie entführten einen Reisbauern, einen Hafenarbeiter und eine Frau, die sagte, sie sei an den Strand gekommen, um sich zu ertränken.
Und dann war mit den Entführungen ebenso plötzlich Schluss, wie sie begonnen hatten. Jun Do wurde auf eine Sprachschule geschickt, wo er in einem Jahr Englisch lernen sollte. Er fragte seinen vorgesetzten Offizier in Kyŏngsŏng, ob der neue Posten eine Belohnung dafür sei, dass er die Republikflucht eines Ministersohns verhindert habe. Der Offizier nahm Jun Dos alte Uniform, sein Rationsheft für Alkohol und seinen Bezugsscheinblock für Prostituierte in Empfang. Er grinste, als er sah, dass der Block noch fast unbenutzt war. Ja klar , meinte er.
In Majon-ni, in den Onjin-Bergen, war es kälter, als es in Ch'ŏngjin je wurde. Jun Do war dankbar für die
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