Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Gift melken, für Schnaps. Sie wandten sich an die alte Frau, doch die bedeutete ihnen, das Tier freizulassen. Ich sah zu, wie die Schlange durch ein abgeerntetes Reisfeld davonschwamm. Auf der dunklen Oberfläche des seichten Wassers spiegelte sich feuriges Abendlicht. Die Schlange wählte ihren eigenen Weg, fort von uns, und mir schien, als warte am anderen Ufer eine zweite schwarze Schlange darauf, dass dieser geübte Schwimmer zu ihr heimkehrte.
*
Um Mitternacht war ich endlich zu Hause. Zwar drehte sich mein Schlüssel im Schloss, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Irgendetwas versperrte sie von innen. Ich hämmerte dagegen. »Mutter!«, rief ich. »Vater! Ich bin’s, euer Sohn! Mit der Tür stimmt was nicht, macht mir auf!« Eine ganze Weile bettelte ich, dann stemmte ich mich mit der Schulter gegen das Holz, aber nicht zu sehr: Eine eingeschlagene Tür würde im Haus für reichlich Gesprächsstoff sorgen. Schließlich knöpfte ich meinen Kittel zu und legte mich im Korridor schlafen. Ich versuchte, an das Zirpen von Grillen zu denken und an spielende Kinder im Dunkeln, doch sobald sich meine Lider schlossen, sah ich nur noch kalten Beton vor mir. Ich dachte an die Bauern mit ihren sehnigen Körpern und ihrer rauen Sprache und daran, wie sorgenfrei sie lebten, vom drohenden Hungertod einmal abgesehen.
Pling!, machte es in der Dunkelheit – das rote Mobiltelefon.
Ich kramte es heraus, das grüne Licht blinkte. Ein neues Foto erschien auf dem winzigen Bildschirm: Ein koreanischer Junge und ein koreanisches Mädchen, halb benommen, halb lächelnd vor einem strahlend blauen Himmel. Beide hatten eine schwarze Kappe mit großen runden Ohren auf, die sie aussehen ließen wie Mäuse.
Am Morgen stand die Tür plötzlich offen. Drinnen kochte meine Mutter Haferbrei; mein Vater saß am Tisch. »Wer ist da?«, wollte er wissen. »Ist da jemand?«
An einem der Stühle war die Lehne vom Türknauf blankgerieben.
»Ich bin es, Vater, dein Sohn!«
»Ein Glück, dass du wieder da bist«, sagte mein Vater. »Wir haben uns Sorgen gemacht.«
Meine Mutter sagte gar nichts.
Auf dem Tisch lagen die Akten meiner Eltern, die ich mitgebracht hatte. Ich hatte schon die ganze Woche darin gelesen. Es sah aus, als hätte jemand darin geblättert.
»Ich wollte letzte Nacht hereinkommen, aber die Tür war versperrt«, sagte ich. »Habt ihr mich nicht gehört?«
»Ich habe nichts gehört«, sagte Vater. Dann wandte er sich an die leere Luft: »Frau, hast du etwas gehört?«
»Nein«, erwiderte sie vom Herd, »keinen Mucks.«
Ich ordnete die Akten. »Dann seid ihr zwei jetzt wohl obendrein auch noch taub geworden.«
Meine Mutter schlurfte mit zwei Schälchen Haferbrei zum Tisch; sie machte winzige Trippelschritte, damit sie in ihrer Finsternis nicht stolperte.
Ich fragte: »Aber warum habt ihr die Tür verrammelt? Ihr habt doch nicht etwa Angst vor mir?«
»Angst vor dir?«, fragte meine Mutter zurück.
»Warum sollten wir Angst vor dir haben?«, wollte mein Vater wissen.
Meine Mutter meinte: »Der Lautsprecher hat gesagt, dass die amerikanische Marine aggressive Manöver vor unserer Küste abhält.«
»Man darf kein Risiko eingehen«, verkündete mein Vater. »Auf die Amerikaner muss man immer vorbereitet sein.«
Sie bliesen auf ihr Essen und löffelten still vor sich hin.
»Wie kannst du so gut kochen, ohne zu sehen, was du tust?«, fragte ich meine Mutter.
»Ich spüre die Hitze, die die Pfanne abgibt«, antwortete sie. »Und der Geruch des Essens verändert sich beim Kochen.«
»Und das Messer?«
»Das ist ganz einfach«, erklärte sie. »Ich lege es gegen meine Knöchel. Das Essen in der Pfanne zu rühren, das ist am schwierigsten. Mir geht immer was daneben.«
Die Akte meiner Mutter enthielt ein Foto von ihr als junger Frau. Sie war mal wunderschön gewesen, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie in die Stadt gebracht worden war. Warum man sie aber zur Fabrikarbeit verurteilt hatte, anstatt sie als Sängerin oder Hostess einzusetzen, das ging aus den Unterlagen nicht hervor. Ich blätterte mit Absicht geräuschvoll darin.
»Auf dem Tisch haben Papiere gelegen«, sagte mein Vater. Er klang nervös.
»Sie sind heruntergefallen«, ergänzte meine Mutter schnell, »aber wir haben sie wieder aufgesammelt.«
»Es war ein Versehen«, fügte mein Vater hinzu.
»Sowas passiert schon mal«, beruhigte ich sie.
»Haben diese Papiere mit deiner Arbeit zu tun?«, fragte meine Mutter.
»Ja«, fiel mein Vater
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