Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
in der Hand oder in das versteinerte Gesicht von Offizier So –, gestand man sich ein, dass man in der Falle saß, dass man sehr bald zu genau dem gezwungen sein würde, was man am meisten verabscheute.
»Ich habe von einem Syndrom gelesen«, sagte der Geliebte Führer. »Da beginnt eine Gefangene, Sympathien für den zu empfinden, der sie gefangen hält. Oftmals entsteht daraus Liebe. Hast du davon schon einmal gehört?«
Allein schon die Vorstellung schien Ga unmöglich, absurd gar. Wer brächte es fertig, zu seinem Unterdrücker überzulaufen? Wer wäre in der Lage, mit dem Schurken zu sympathisieren, der ihm sein Leben stiehlt?
Ga schüttelte den Kopf.
»Das Syndrom gibt es wirklich, ich versichere es dir. Das einzige Problem ist, dass es angeblich Jahre dauern kann, bevor das passiert, und die haben wir offenbar nicht.« Er starrte an die Wand. »Vorhin hast du gesagt, du wüsstest genau, wie ich mich fühle – hast du das ernst gemeint?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Ga.
Der Geliebte Führer betrachtete eingehend das Profil des Schlüssels. »Möglich wäre es. Du hast Sun Moon. Früher war sie meine Vertraute. Jawohl, ihr habe ich alles anvertraut. Das war vor Jahren – bevor du gekommen bist und sie mir weggenommen hast.« Kopfschüttelnd blickte er nun Ga an. »Ich kann einfach nicht glauben, dass es dich immer noch gibt. Ich kann nicht glauben, dass ich dich nicht den Pubjok vorgeworfen habe. Aber verrate mir eins – wo finde ich ein anderes Rudermädchen? Ein großgewachsenes, schönes Mädchen, das zuhören kann, ein Mädchen, dessen Herz nicht lügen kann und das dennoch mit bloßen Händen das Blut ihrer Freundin geschöpft hat.« Er schob den Schlüssel ins Schloss. »Sie versteht zwar nicht, was ich zu ihr sage, aber das macht nichts, denn sie weiß, was ich meine, da bin ich mir sicher. Und sie selbst benötigt keine Worte – ihr steht jedes Gefühl ins Gesicht geschrieben. Sun Moon war auch so. Sun Moon war ganz genauso«, sagte er und drehte den Schlüssel um.
*
Drinnen saß die Ruderin über ihre Aufgaben gebeugt. Hoch stapelten sich ihre Notizbücher, und schweigend schrieb sie eine englische Ausgabe von Kim Jong Ils Das leidenschaftliche Streben des revolutionären Geistes ab.
Der Geliebte Führer lehnte in der offenen Tür und betrachtete sie wohlwollend.
»Sie hat jedes Wort gelesen, das ich je geschrieben habe«, sagte er. »So lernt man das Herz eines anderen am genauesten kennen. Stell dir doch nur vor, Ga, wenn es das Syndrom wirklich gibt: Eine Amerikanerin, die mich liebt! Wäre das nicht der ultimative Sieg? Eine starke, schöne Amerikanerin. Würde ich damit nicht das letzte Wort behalten?«
Ga kniete sich neben sie und verschob die Tischlampe, um sie besser sehen zu können. Ihre Haut war fast durchsichtig, so weiß war sie. Ihr Atem rasselte von der feuchten Luft.
Der Geliebte Führer sprach: »Frag sie, ob sie weiß, was ein Chosŏnot ist. Ich bezweifle es. Sie hat ein ganzes Jahr keine andere Frau gesehen. Ich wette, die letzte Frau, die sie sah, war die, die durch ihre Hand starb.«
Ga konnte sie dazu bringen, ihm in die Augen zu blicken. »Wollen Sie nach Hause?«, fragte er sie auf Englisch.
Sie nickte.
»Ausgezeichnet«, sagte der Geliebte Führer. »Sie weiß tatsächlich, was ein Chosŏnot ist. Erkläre ihr, dass ich jemanden schicke, der ihre Maße dafür nimmt.«
»Passen Sie jetzt gut auf«, sagte Ga zu ihr. »Die Amerikaner versuchen, Sie hier rauszuholen. Schreiben Sie in Ihr Heft, was ich diktiere: Wanda, bitte alles – «
»Sag ihr, sie darf jetzt auch zum ersten Mal baden«, unterbrach ihn der Geliebte Führer. »Und versichere ihr, dass ihr dabei von einer Frau geholfen wird.«
Ga sprach weiter. »Schreiben Sie genau das, was ich sage: W anda, bitte alles annehmen – Hungerhilfe, Hund und Bücher. «
Während sie schrieb, blickte er sich zum Geliebten Führer um, der sich dunkel vor dem hell erleuchteten Korridor abzeichnete.
Der Geliebte Führer sagte zu ihm: »Vielleicht sollte ich sie rauslassen, damit sie sich mal schön im Koryo-Hotel baden und verwöhnen lassen kann. Vielleicht freut sie sich ja schon ein bisschen auf so was.«
»Ausgezeichnete Idee«, antwortete Ga, und wandte sich wieder dem Mädchen zu. Klar und deutlich sagte er: »Fügen Sie hinzu: Verborgene Gäste bringen wertvollen Laptop. «
»Vielleicht sollte ich sie wirklich ein wenig verwöhnen«, sinnierte der Geliebte Führer, den Blick zur Decke gerichtet. »Frag
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