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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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den Duft einer Azalee ein, als sei dies die letzte Azaleenblüte ihres Lebens, und im Gehen wand sie zartviolette Armbänder aus Glyzinien. Mit jedem Wechsel der Windrichtung zeichnete sich ihr Körper unter dem Chosŏnot aus weißer Baumwolle ab.
    »Ich will es den Kindern sagen, bevor wir gehen«, erklärte er.
    Endlich reagierte sie.
    »Was willst du sagen?«, fragte sie. »Dass du ihren Vater getötet hast? Nein, sie werden in Amerika in dem Glauben aufwachsen, dass ihr Vater ein großer Held war, dessen sterbliche Überreste in einem fernen Land ruhen.«
    »Sie müssen es wissen«, widersprach er, verstummte aber, als eine Brigade Soldatenmütter an ihnen vorbeizog. Einschüchternd schepperten die Frauen mit ihren roten Dosen, um den Spaziergängern Sŏn'gun-Spenden abzunötigen. »Und die beiden müssen es von mir persönlich hören«, fuhr er fort. »Die Wahrheit, eine Erklärung – nichts ist für sie wichtiger. Und es ist das Einzige, was ich ihnen geben kann.«
    »Dafür wird es noch Gelegenheit genug geben«, erklärte sie. »Diese Entscheidung können wir später treffen, wenn wir sicher in Amerika sind.«
    »Nein«, widersprach er, »es muss jetzt sein.«
    Kommandant Ga blickte zurück zu den beiden Kindern. Sie beobachteten das Gespräch, waren jedoch zu weit entfernt, um etwas zu verstehen.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte Sun Moon. »Hat der Geliebte Führer Verdacht geschöpft?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, meinte er, aber ihre Frage rief das Bild des Rudermädchens in ihm wach und zugleich den Gedanken, dass der Geliebte Führer sie vielleicht nicht hergeben würde.
    Sun Moon hielt bei einem Betonfass inne und hob den Holzdeckel ab. Sie schöpfte Wasser und trank, beide Hände um die silberne Kelle gelegt. Kommandant Ga beobachtete, wie ein feines Rinnsal ihren Chosŏnot an der Brust dunkler färbte. Er versuchte, sich Sun Moon mit einem anderen Mann vorzustellen. Sollte der Geliebte Führer sein Rudermädchen nicht freigeben, war es aus mit ihrem Plan, die Amerikaner würden erzürnt abziehen, und bald schon würde es für Kommandant Ga ein schlimmes Ende nehmen. Und Sun Moon würde die begehrte Belohnung für einen Ersatzehemann werden. Und was wäre, wenn der Geliebte Führer recht hätte, wenn sie im Laufe der Jahre ihre Liebe zu diesem neuen Ehemann entdeckte, echte Liebe – nicht nur ein Liebesversprechen oder die Hoffnung auf Verliebtheit? Konnte Kommandant Ga aus dieser Welt gehen und wissen, dass ihr Herz für einen anderen bestimmt war?
    Sun Moon tauchte den Schöpflöffel tief ins Fass, um an das kühlere Nass ganz am Grund zu kommen. Dann hielt sie Ga die Kelle zum Trinken hin. Das Wasser schmeckte frisch und mineralreich.
    Er wischte sich den Mund ab. »Sag mal, hältst du es für möglich, dass sich eine Frau in ihren Entführer verliebt?«
    Sie betrachtete ihn einen Moment. Ihm war klar, dass sie die Antwort aus seinem Gesicht zu lesen versuchte.
    Er fügte hinzu: »Das ist doch unmöglich, oder? Allein die Vorstellung ist vollkommen verrückt, meinst du nicht?« Vor seinem geistigen Auge zog eine Parade all der Menschen vorbei, die er entführt hatte, ihre aufgerissenen Augen und zerschrammten Gesichter, die weißen Lippen, wenn das Klebeband abgerissen wurde. Er sah die rotlackierten Fußnägel wieder vor sich, die sich hoben, um zuzutreten. »Ich meine, sie können dich doch nur verachten – dich, der ihnen allesgenommen hat. Was denkst du? So etwas kann es doch nicht geben, so ein Syndrom.«
    »Syndrom?«
    Er warf einen Blick auf die Kinder, die mitten in der Bewegung erstarrt waren. Es war eins ihrer Lieblingsspiele – Gewinner war der, der am besten die Pose einer Statue nachahmen konnte.
    »Der Geliebte Führer hat von einem Syndrom gelesen und glaubt, er müsse eine gewisse Frau nur lange genug einsperren, bis sie ihn irgendwann liebt.«
    »Eine gewisse Frau?«
    »Wer sie ist, ist unwichtig«, erwiderte er. »Wichtig ist nur, dass sie Amerikanerin ist. Eine Delegation wird kommen und sie abholen, und wenn der Geliebte Führer sie nicht herausrückt, ist unser Plan zunichte.«
    »Du sagst, sie ist eingesperrt. Sitzt sie in einem Käfig oder in einem Gefängnis? Wie lange geht das schon?«
    »Sie sitzt in seinem Privatbunker. Sie wollte die Welt umrudern, aber es gab ein Problem mit ihrem Boot. Sie wurde im Meer aufgesammelt, und jetzt ist der Geliebte Führer ganz hin und weg von ihr. Nachts steigt er hinunter in die Zelle zu ihr und spielt ihr Opern

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