Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
vor, die ihm zu Ehren komponiert wurden. Er will sie da unten festhalten, bis sie ihm Gefühle entgegenbringt. Hast du so was schon jemals gehört? So etwas gibt es doch nicht.«
    Sun Moon schwieg. Dann sagte sie: »Was ist, wenn eine Frau mit ihrem Entführer in einem Bett schlafen muss?«
    Ga suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, worauf sie hinauswollte.
    Sun Moon sagte: »Was, wenn sie in allem von ihrem Entführer abhängig ist – Essen, Zigaretten, Kleidung –, und er ihr alles nach Lust und Laune zuteilen oder vorenthalten kann?«
    Sie sah ihn an, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort, doch er hatte keine Ahnung, ob sie von ihm oder von seinem Vorgänger sprach.
    »Was, wenn eine Frau die Kinder ihres Kerkermeisters zur Welt bringen muss?«
    Ga nahm ihr die Kelle ab und schöpfte Wasser für den Jungen und das Mädchen, doch die beiden stellten gerade die Posen des Hammer- und des Sichelträgers auf dem Fries am Parteigründungsdenkmal nach, und nicht einmal die Mittagshitze konnte sie dazu bewegen, ihre Pose abzubrechen.
    »Den Mann gibt es nicht mehr«, sagte er. »Jetzt bin ich da. Ich halte dich nicht gefangen. Ich schenke dir die Freiheit. Über Gefangene lässt sich leicht reden, aber du brauchst nur ein einziges Wort zu sagen: ›Flucht‹. Die Gefangene des Geliebten Führers will fliehen. Sie ist zwar in einer Zelle eingesperrt, aber ihr Herz ist ruhelos. Sie wird die Gelegenheit zur Flucht ohne zu zögern ergreifen, das kannst du mir glauben.«
    »Du hörst dich an, als würdest du sie kennen«, sagte Sun Moon.
    »Vor langer Zeit, fast schon in einem anderen Leben, hatte ich einen Job: Ich habe Funkmeldungen auf See mitgeschrieben. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang habe ich gelauscht, und in der dunkelsten Stunde habe ich sie gehört – das Rudermädchen. Zusammen mit ihrer Freundin ruderte sie um die Welt, und sie war diejenige, die während der Nacht ruderte, ohne einen Horizont, auf den sie zuhalten konnte, oder die Sonne, deren Stand ihr Vorankommen markierte. Sie war auf ewig an die andere gebunden und doch völlig allein. Nur aus Pflichtgefühl machte sie weiter, ihr Körper war an die Riemen gefesselt, aber ihr Geist, die Funksprüche, die sie absetzte – noch nie hat eine Frau so frei geklungen.«
    Sun Moon legte den Kopf schief und versuchte sich an denWorten. »Auf ewig an den anderen gebunden«, flüsterte sie, und dann, als fände sie sich selbst darin wieder: »Und doch völlig allein.«
    »Willst du so leben?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Bist du bereit, über den Plan zu sprechen?«
    Sie nickte.
    »Schön«, sagte er. »Aber vergiss nicht: Auf ewig gebunden und doch allein – das kann auch etwas Positives sein. Sollten wir aus irgendeinem Grund getrennt werden, sollten wir aus irgendeinem Grund nicht gemeinsam herauskommen, dann bleiben wir miteinander verbunden, auch wenn wir nicht zusammen sind.«
    »Was redest du da?«, fragte sie. »›Getrennt‹ gibt es nicht. Das kommt nicht in Frage.«
    »Aber was, wenn etwas schiefgeht, was, wenn ich zurückbleiben muss, damit ihr drei es schafft?«
    »Oh nein«, sagte sie. »Ich brauche dich. Ich spreche kein Englisch, ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, ich weiß nicht, welche Amerikaner Informanten sind und welche nicht. Wir gehen nicht ans andere Ende der Welt und haben dann nur noch die Kleider, die wir am Leibe tragen.«»Glaub mir – auch wenn etwas schieflaufen sollte, würde ich irgendwann zu euch stoßen. Irgendwie würde ich es schaffen. Und allein wärst du nicht. Die Frau des Senators würde dir helfen, bis ich wieder bei dir bin.«
    »Ich brauche keine Frau von irgendjemandem!«, rief sie aufgebracht. »Ich brauche dich! Dich muss ich haben. Du hast keine Ahnung, wie mein Leben bisher war, wie ich immer wieder nur belogen worden bin.«
    »Natürlich bleibe ich bei dir«, versicherte Ga. »Ich werde immer bei dir sein.«
    Und dann kam der Kuss. Er begann mit einer Neigung ihres Kopfes, ihre Augen huschten zu seinem Mund, eine Hand schob sich langsam bis zu seinem Schlüsselbein hoch und blieb dort liegen, und dann lehnte sie sich zu ihm hin – das langsamste Hinlehnen, das die Welt je gesehen hat. Er erkannte den Kuss, er stammte aus Haltet die Fahne hoch! , es war der Kuss, mit dem sie den willensschwachen südkoreanischen Grenzsoldaten ablenkte, während ihr Trupp Freiheitskämpfer die Stromversorgung des Wachturms kappte und die Befreiung Südkoreas aus den Händen der

Weitere Kostenlose Bücher