Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
ein, »haben sie mit einem deiner Fälle zu tun?«
»Ich recherchiere nur was«, antwortete ich.
»Das müssen aber wichtige Unterlagen sein, wenn du sie mit nach Hause nimmst«, meinte mein Vater. »Hat jemand Ärger? Jemand, den wir kennen?«
»Was ist denn bloß los?«, fragte ich. »Geht es um Frau Kwok? Seid ihr wegen ihr immer noch sauer auf mich? Ich wollte sie nicht denunzieren. Aber sie hat die Kohle aus dem Feuerkessel gestohlen. Wegen ihrer Selbstsucht mussten wir im Winter alle frieren.«
»Reg dich bitte nicht auf«, sagte meine Mutter. »Uns taten nur die Unglücksmenschen in deinen Akten leid.«
»Unglücksmenschen? Wie kommst du auf ›Unglück‹?«
Beide verstummten. Ich blickte zur Küche; hoch oben auf dem Hängeschrank stand die Pfirsichdose. Mir schien, als wäre sie ein wenig verrückt worden; vielleicht hatte das blindeZweigespann sie inspiziert, doch ich war mir nicht mehr sicher, wie herum ich die Dose zuletzt abgestellt hatte.
Langsam schwenkte ich die Akte vor den Augen meiner Mutter hin und her, doch ihr Blick reagierte nicht. Dann fächelte ich ihr damit ins Gesicht; der Luftzug ließ sie zurückzucken und erschrocken nach Luft schnappen.
»Was ist los?«, fragte mein Vater. »Was ist passiert?«
Sie antwortete nicht.
»Kannst du mich sehen, Mutter?«, fragte ich. »Ich muss wissen, ob du mich sehen kannst, es ist wichtig.«
Sie wandte den Kopf in meine Richtung, doch ihr Blick blieb verschwommen. »Ob ich dich sehen kann? Ich sehe dich genau so, wie ich dich das allererste Mal gesehen habe – schwache Eindrücke in der Dunkelheit.«
»Erspar mir das Rätselraten«, sagte ich ärgerlich. »Ich muss es wissen.«
»Du bist mitten in der Nacht geboren«, antwortete sie. »Den ganzen Tag lag ich in den Wehen, und dann wurde es dunkel, und wir hatten keine Kerzen. Deinen Vater hat nur sein Tastsinn geleitet, als er dich auffing.«
Mein Vater hob seine Hände; von den Webmaschinen waren sie voller Narben. »Mit diesen Händen«, sagte er.
»So war es im Jahr Juche 62«, sagte meine Mutter. »So war das damals in einem Fabrikschlafsaal. Dein Vater hat ein Streichholz nach dem anderen angezündet.«
»Eins nach dem anderen, bis keins mehr übrig war«, ergänzte mein Vater.
»Ich habe deinen ganzen Körper abgetastet, jede Stelle – erst, um sicherzugehen, dass alles an dir dran war, und dann, um dich kennenzulernen. So neu warst du, so unschuldig – wer du einmal würdest, war vollkommen offen, alles war möglich. Bis zur Morgendämmerung mussten wir warten, bevor wir dich bewundern konnten.«
»Wohnten da noch andere Kinder? Gab es andere Familien?«
Meine Mutter ignorierte die Frage. »Wir sehen nichts. Das ist die Antwort auf deine Frage. Aber genau wie damals braucht man nicht sehen zu können, um zu erkennen, was aus dir geworden ist.«
AM SONNTAG schlenderte Kommandant Ga mit Sun Moon über den Joseon-Spazierweg, der am Fluss entlang bis zum Zentralen Omnibusbahnhof führte. Hier in der Öffentlichkeit konnten sie am wenigsten belauscht werden. Alte Leute hatten die Bänke besetzt, und da in diesem Monat ein neuer Roman herausgekommen war, lagen die jungen Menschen im Gras, vertieft in Mit ganzem Herzen für ihr Land . Kommandant Ga stieg der Geruch heißer Druckerschwärze von der Rodong-Sinmun -Druckerei in die Nase; es wurde bisweilen behauptet, dass jeden Sonntagnachmittag sämtliche Ausgaben der kommenden Woche gedruckt wurden. Jedes Mal, wenn Ga im Gebüsch ein hungrig blickendes Straßenkind entdeckte, warf er ihm ein paar Münzen zu. Sun Moons Kinder schienen diese kleinen Waisen, die sich mitten unter ihnen versteckten, überhaupt nicht zu bemerken. Der Junge und das Mädchen aßen Wassereis und spazierten unter den Trauerweiden her, deren Spätsommertriebe bis auf den Kiesweg hinabreichten.
Kommandant Ga und Sun Moon hatten bisher nur in Andeutungen und Halbsätzen über ihren Plan gesprochen, ohne dabei an die Fakten und Details zu rühren. Er wollte es beim Namen nennen, von ›Flucht‹ oder sogar ›Republikflucht‹ sprechen. Er wollte die einzelnen Schritte darlegen, sie auswendig lernen und den Ablauf laut einüben. Wie ein Drehbuch, sagte er. Er bat Sun Moon auszusprechen, dass ihr klar sei, dass es zum Äußersten kommen konnte. Sie aber wollte sich überhaupt nicht dazu äußern. Sie kommentierte das Knirschen des Kieswegs unter ihren Füßen und das Ächzender Schwimmbagger, die mit ihren rostigen Schaufeln über das Flussbett schabten. Sie sog
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