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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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»Bitte, entlocke ihr ein Lied. Für mich.«
    Sie schlug die Saiten an. »Leider ist mein Herz zu klein für meine große Liebe ...«, sang sie.
    »Na siehst du.«
    Sie schrammelte: »... zur demokratischsten Nation ... der Demokratischen Volksrepublik Korea!«
    »Das ist gut«, sagte er. »Und jetzt weniger wie ein Vögelchen. Sing es mit heißer Inbrunst.«
    Sie legte die Gitarre flach auf den Tresen – so, wie man ein ordentliches Saiteninstrument spielt. Dann probierte sie aus, wie man die Saiten zupfen musste, damit sie unterschiedliche Töne hervorbrachten.
    »Die Yankees, sie lachen«, sang sie und griff kräftig in die Saiten. »Die Yankees, sie klagen.«
    Der Geliebte Führer klopfte mit der Faust den Rhythmus auf dem Tresen.
    »Unser Volk hat nichts dazu zu sagen«, sang sie aus vollem Hals. »Denn zufrieden sind wir an allen Tagen!«
    Beide brachen in Gelächter aus. »Wie ich das vermisse«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir uns bis spät in die Nacht über Drehbücher unterhalten haben? Wie wir unserer Heimatliebe Ausdruck verliehen haben und der Wiedervereinigung huldigten?«
    »Ja«, meinte sie, »aber heute ist alles ganz anders.«
    »Tatsächlich? Ich habe mich immer gefragt«, sagte der Geliebte Führer, »ob nicht – wenn deinem Mann auf einer seiner zahlreichen gefährlichen Unternehmungen etwas zustieße – ob wir beide dann nicht wieder Freunde sein könnten. Natürlich ist dein Mann quicklebendig und deine Ehe gewiss glücklicher denn je. Aber wenn deinem Gatten etwas zugestoßen wäre, wenn er von einem seiner vielen heldenhaften Einsätze für unser Land nicht zurückgekehrt wäre, hätte ich dann recht gehabt? Würden wir uns dann wieder nahekommen, würden wir dann wieder bis tief in die Nacht aufbleiben und uns über unser Verständnis von Juche und Sŏn'gun austauschen?«
    Sie zog ihre Hand von der Gitarre zurück. »Wird meinem Gatten etwas zustoßen? Wollen Sie mir das sagen? Müssen Sie ihn auf eine gefährliche Mission schicken?«
    »Nein, nein, ganz und gar nicht!«, antwortete der Geliebte Führer. »Nichts läge mir ferner. Natürlich kann man sich nie sicher sein. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Welt kein ungefährlicher Ort ist, und die Zukunft kennen nur hochrangige Offiziere.«
    Sun Moon sagte: »Ihre väterliche Weisheit hat meiner weiblichen Verzagtheit immer aufgeholfen.«
    »Das ist eine meiner Begabungen«, antwortete der Wohltätige Führer Kim Jong Il in seiner großen Bescheidenheit. »Es fällt mir wohl auf«, fügte er hinzu, »dass du ihn als deinen Gatten bezeichnest.«
    »Ich weiß nicht, als was ich ihn sonst bezeichnen sollte.«
    Der Geliebte Führer nickte. »Aber du beantwortest meine Frage nicht.«
    Sun Moon verschränkte die Arme und wandte sich vom Tresen ab. Sie ging zwei Schritte und hielt dann inne. »Auch ich sehne mich nach den nächtlichen Unterhaltungen mit Ihnen«, sagte sie. »Doch diese Tage liegen hinter uns.«
    »Aber warum?«, fragte der Geliebte Führer. »Warum müssen sie hinter uns liegen?«
    »Weil ich höre, dass Sie jetzt eine neue Vertraute haben, eine neue junge Schülerin.«
    »Ah, jemand war offen mit dir und hat dir gewisse Dinge mitgeteilt.«
    »Wenn eine Bürgerin unseres Landes einen Ersatzmann bekommt, ist es ihre Pflicht, sich ihm zu öffnen.«
    »Ach, hast du das getan?«, wollte der Geliebte Führer wissen. »Hast du dich ihm geöffnet ?«
    »Die Zukunft kennen nur hochrangige Offiziere«, erwiderte sie lächelnd.
    Der Geliebte Führer nickte anerkennend. »Siehst du, genau das fehlt mir. Dein Witz.«
    Sun Moon nippte zum ersten Mal an ihrem Kognak.
    »Wer also ist diese neue Schülerin?«, fragte sie. »Weiß sie Ihre subtile Art zu schätzen, Ihren Humor?«
    Der Geliebte Führer lehnte sich zu ihr herüber, froh, dass sie wieder auf ihn einging. »An dich kommt sie nicht heran, so viel kann ich dir verraten. Sie ist weder so schön wie du noch so charmant, noch so wortgewandt.«
    Sun Moon heuchelte Überraschung. »Nicht wortgewandt?«
    »Zieh mich nicht auf!«, entgegnete er. »Du weißt, dass sie nur Englisch spricht. Zugegeben, sie ist keine Sun Moon, aber unterschätze sie nicht, diese junge Frau aus Amerika. Glaube mir, mein Rudermädchen verfügt sehr wohl über besondere Fähigkeiten, eine eigene dunkle Energie.«
    Jetzt beugte sich auch Sun Moon vor, sodass ihre Gesichter über dem Tresen einander ganz nah waren.
    »Sagen Sie mir nur eins, mein sehr geliebter Führer«, sagte sie. »Und bitte, lassen

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