Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
kapitalistischen Unterdrücker einleitete. Er hatte von diesem Kuss geträumt, und nun gehörte er ihm.
In sein Ohr flüsterte sie: »Lass uns fliehen.«
BÜRGER! Reißt eure Fenster auf und wendet eure Blicke himmelwärts, denn es fliegt eine Krähe über Pjöngjang. Nichts entgeht ihrem Schnabel, schon bei der leisesten Andeutung einer Gefahr für das patriotische Volk krächzt sie los. Hört das Rauschen ihrer schwarzen Schwingen, seid gewarnt vor ihrem lauten Schrei. Schaut, wie die Herrscherin der Lüfte in die Schulhöfe hinabtaucht und die Kinder kontrolliert, denn sie wittert die geringste Spur von Feigheit; danach stößt sie mit ausgestreckten Klauen auf die Friedenstauben herab, die die Statue von Kim Il Sung schmücken, um deren Treue zu prüfen. Nun umkreist unsere Krähe einen Juche-Jungmädchentrupp, denn Jungfräulichkeit erkennt sie aus der Luft – kein anderes Tier hat einen derart scharfen Blick, und der strenge Vogel nickt zustimmend, während er ihre innere Reinheit überprüft.
Doch es ist der Gedanke an Amerika, der diese Krähe beschäftigt. Sie verfolgt keine Kastaniendiebe und hält auch nicht durch Wohnblockfenster nach den verräterischen Pfotenabdrücken illegaler Hundezucht Ausschau. Nein, Bürger, die Amerikaner haben die Einladung des Geliebten Führers angenommen, und sie werden der ruhmreichsten Hauptstadt der Welt einen Besuch abstatten: Pjöngjang! Und nun suchen die dunklen Schwingen, die ihren Schatten schützend über die Felder von Arirang breiten, Komplizen des Kapitalismus. Ein einziger Verräter genügt, um einem Land die Unschuld zu rauben, das so rein und unbefleckt ist, dass es weder materialistische Habgier noch verbrecherische Überraschungsangriffe kennt. Glücklicherweise hält die Krähe wohlwollendWache über dem koreanischen Volk, wie kein anderes Tier es tut, Bürger! Sie wird nicht zulassen, dass wir zu einer Nation werden, deren Einwohner Hunden Namen geben, ihre Mitbürger aufgrund ihrer Hautfarbe unterdrücken und pharmazeutische Pillen schlucken, um ihre Babys abzutreiben.
Warum aber kreist diese Krähe über dem Joseon-Spazierweg? Das ist doch der Ort, an dem sich unsere ehrenwertesten Bürger ergehen, an dem junge Leute ihren greisen Mitmenschen die Füße waschen und Ammen an heißen Tagen den Babys der Yangbans ihre schwere Brust zur Erfrischung darbieten.
Die scharfsichtige Krähe ist hier, Bürger, weil sie gesehen hat, wie ein Mann etwas Glänzendes ins Gebüsch warf, wo sich Waisenkinder eilends darum balgten. Waisenkindern Münzen zu schenken beraubt sie nicht nur ihrer Selbstachtung und ihres Juche-Geists, sondern es verstößt auch gegen einen Hauptgrundsatz der Bürgerpflicht: Übe Dich in wirtschaftlicher Unabhängigkeit!
Bei genauerem Hinsehen bemerkte die Krähe, dass dieser Mann mit einer Frau sprach und dabei auf eine Weise gestikulierte, die darauf schließen ließ, dass die beiden etwas ausheckten. In diesem Moment erkannte die Krähe in dem Regelbrecher den Kommandanten Ga, einen Mann, der erst vor Kurzem sämtliche Grundsätze der Bürgerpflicht verletzt hat: Verschreibe Dich auf ewig unseren glorreichen Führern! Sei dankbar für Kritik! Gehorche dem Sŏn'gun-Prinzip! Verpflichte Dich der kollektiven Kindererziehung! Unterwerfe Dich regelmäßigen Märtyrerübungen!
Und nun wäre die Krähe, von Schönheit geblendet, beinahe vom Himmel gestürzt, denn plötzlich erkannte sie in der Frau, die mit diesem schändlichen Bürger sprach, keine Geringere als Sun Moon! Der Vogel bremste seinen freien Fallmit den Flügeln und landete zwischen dem ungleichen Paar. Als sich Kommandant Ga herabbeugte, um die Nachricht entgegenzunehmen, die die Krähe im Schnabel trug, sprang diese hoch – Krah! – und schlug ihm mit den Schwingen ins Gesicht. Dann wandte sie sich Sun Moon zu, die erkannte, dass die Nachricht für sie bestimmt war. Sie glättete den Papierstreifen und las darauf einzig den Namen unseres Geliebten Führers Kim Jong Il.
Plötzlich fuhr ein schwarzer Mercedes vor, und ein Mann mit geschientem Nasenbein eilte um den Wagen, um Sun Moon den Schlag zu öffnen. Und schon war sie auf dem Weg zu unserem Großen General, ihrem Entdecker, der all ihre Filme selbst geschrieben hat und der ihr in manch langer Nacht zur Seite gestanden hat, wenn sie Rat brauchte, wie sie den Triumph unserer Nation am besten verkörpern soll. Großer Führer, Diplomat, Stratege, Taktiker, Athlet, Filmemacher, Autor und Dichter – all dies war ihr Kim
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