Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Jong Il, und ja, auch ein Freund.
Auf dem Weg durch die Straßen von Pjöngjang hatte Sun Moon den Kopf an das Seitenfenster gelehnt; traurig wirkte ihr Blick auf die Sonnenstrahlen, die golden die hirsestaubschwangere Luft über dem Zentralen Lebensmitteldepot durchdrangen. Als sie das Kindertheater passierten, wo sie als Mädchen das Akkordeonspiel erlernt hatte, die Kunst des Puppenspiels und die Massengymnastik, sah es aus, als wolle sie weinen. Was ist bloß aus meinen alten Lehrern geworden?, schienen ihre Augen zu fragen, und Tränen blinkten, als ihr Blick auf die fantastischen Türme der Eislaufarena fiel – einer der wenigen Orte, an den ihre Mutter, die immer einen amerikanischen Überraschungsangriff fürchtete, sich gewagt hatte. Damals auf dem Eis gab es nichts als spontane Beifallsbezeugungen für die kleine Sun Moon, deren mädchenhafteGlieder mit weitem Schwung die Sprünge ausführten; die Begeisterung in ihrem Gesicht bezauberte hinter dem Regen aus Eiskristallen, die von ihren Kufen aufstoben. Arme Sun Moon! Fast war es, als wisse sie, dass sich ihr dieser Anblick zum letzten Mal präsentierte, als überkomme sie eine Vorahnung dessen, was die grausamen, gnadenlosen Amerikaner mit ihr vorhatten. Welche Frau würde nicht auf der ganzen Allee der Wiedervereinigung bitterlich weinen, wenn sie wüsste, dass sie nie wieder eine so saubere Straße zu sehen bekäme oder eine so schnurgerade Warteschlange an der Lebensmittelausgabe und dass sie nie wieder das Knattern von tausend blutroten Flaggen hören würde, die Kim Il Sungs berühmte Rede vom 18. Oktober des Jahres Juche 63 Wort für Wort lobpriesen!
Sun Moon wurde zum Geliebten Führer geführt, in einen Raum, der so eingerichtet war, dass sich der Besuch aus Amerika darin wohlfühlen sollte. Gedämpftes Lampenlicht, dunkle Spiegel, Tische aus Holz – alles erinnerte an eine amerikanische Flüsterkneipe. Diese Lokalität besuchen die Amerikaner, wenn sie sich den Blicken ihrer repressiven Regierung entziehen wollen. Hinter den schweren Türen der Flüsterkneipe können die Amerikaner in aller Ruhe Alkohol missbrauchen, Unzucht treiben und einander Gewalt antun.
Über seinem modischen Einteiler trug der Geliebte Führer eine Schürze, auf seiner Stirn thronte ein grüner Augenschirm und über die Schulter hatte er einen Lappen geschwungen. Mit ausgestreckten Armen trat er hinter der Bar hervor. »Sun Moon!«, begrüßte er sie. »Was darf ich dir anbieten?«
Ihre Umarmung sprühte vom Geist sozialistischer Kameraderie.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie.
Er erklärte: »Du musst sagen: ›Wie immer.‹«
»Wie immer«, sagte sie.
Daraufhin goss er für beide eine bescheidene Menge nordkoreanischen Kognak, der für seine heilende Wirkung bekannt ist, in Schwenker.
Der Geliebte Führer musterte Sun Moon und bemerkte, dass Trauer in ihren Augen lag.
»Was bedrückt dich?«, fragte er. »Lass mich die Geschichte hören, dann denke ich mir ein Happy End dafür aus.«
»Nichts«, sagte sie. »Ich übe nur für meine neue Rolle.«
»Aber das ist kein trauriger Film!«, erinnerte er sie. »Darin wird ein disziplinloser Ehemann durch einen hocheffizienten Mann ersetzt, und bald haben alle Bauern ihre Ernteerträge gesteigert. Etwas anderes muss auf dir lasten. Ist es eine Herzensangelegenheit?«
»In meinem Herzen ist nur Platz für die Demokratische Volksrepublik Korea«, erwiderte sie.
Der Geliebte Führer lächelte. »Meine Sun Moon«, sagte er. »Genau darum fehlst du mir. Komm, schau, ich habe ein Geschenk für dich.«
Hinter der Bar zog der Geliebte Führer ein amerikanisches Musikinstrument hervor.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Es heißt Gi-tar-re . Darauf spielt die amerikanische Landbevölkerung. Das Instrument soll in Texas besonders beliebt sein«, erklärte er. »Es ist außerdem das bevorzugte Instrument für den sogenannten ›Blues‹. Das ist eine amerikanische Musikrichtung, die von den Qualen handelt, die durch politische Fehlentscheidungen verursacht werden.«
Sun Moon strich mit ihren zarten Fingerkuppen über die Saiten der Gitarre . Dies entlockte dem Instrument ein dumpfes Stöhnen, als habe man eine klangvolle Gayageum in eine Decke gewickelt und mit einem Eimer Wasser übergossen.»In Amerika gibt es so viel, worüber man traurig sein kann«, sagte sie und zupfte an einer anderen Saite. »Aber hören Sie doch – zu so etwas kann ich nicht singen.«
»Du musst aber, unbedingt!«, sagte der Geliebte Führer.
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