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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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blauen Kopfhörer, die er tagein, tagaus trug, weil er damit die nie enden wollenden Panzerübungen der Neunten Mechanisierten nicht zu hören brauchte. Die Schulbürokraten hatten kein Interesse daran, Jun Do Englisch beizubringen. Er sollte einfachalles mitschreiben, was er hörte. Vokabular und Grammatik lernte er über die Kopfhörer und hackte das Ganze in eine klappernde Schreibmaschine. I would like to purchase a puppy , sagte die Frauenstimme in den Kopfhörern, und das tippte Jun Do in die Tasten. Gegen Ende bekam die Schule zum Glück einen richtigen Lehrer – einen zu Depressionen neigenden Mann, den Pjöngjang in Afrika besorgt hatte. Der traurige Afrikaner sprach kein Wort Koreanisch und verbrachte den Unterricht damit, den Schülern gewichtige, kaum zu beantwortende Fragen zu stellen, weshalb sie bald den Interrogativmodus nahezu perfekt beherrschten.
    Ein ganzes Jahr lang schaffte Jun Do es, Giftschlangen, Selbstkritiksitzungen und dem Tetanus zu entgehen, der fast wöchentlich einen Soldaten traf. Es fing ganz harmlos an – ein Piekser am Stacheldraht, eine kleine Verletzung am Rand einer Konservendose –, aber nur allzu bald folgten Fieber, Schüttelfrost und schließlich Muskelkrämpfe, die den Körper derart verdrehten, dass der Leichnam nicht einmal mehr in einen Sarg passte. Die Belohnung, die Jun Do für diese Leistung zuteil wurde, war ein Lauschposten auf dem Koreanischen Ostmeer an Bord des Fischerbootes Junma . Sein Quartier war achtern tief unten im Frachtraum, eine Stahlkammer, die gerade groß genug für einen Tisch, einen Stuhl, eine Schreibmaschine und einen Stapel Empfänger war, die aus abgeschossenen amerikanischen Flugzeugen geklaut worden waren. Nichts als der grüne Schein der Abhörtechnik erleuchtete den Raum und spiegelte sich in dem Fischschleim, der unter den Querschotten durchsickerte und den Boden glitschig machte. Selbst nach drei Monaten an Bord musste Jun Do noch ständig daran denken, was sich hinter den Stahlwänden befand: unendlich viele Fische, die im gekühlten Dunkel randvoller Ladekammern zum letzten Mal nach Luft schnappten.
    Sie waren schon seit mehreren Tagen in internationalen Gewässern unterwegs und hatten die nordkoreanische Flagge eingeholt, um keinen Ärger zu provozieren. Zuerst jagten sie tiefschwimmenden Makrelen hinterher, dann nervösen Thunfischen, die nur kurz an die Oberfläche kamen, wo sie in der Sonne glitzerten. Jetzt war die Junma auf Haifischjagd. Die ganze Nacht lang hatten die Männer am Rand des Ozeangrabens Langleinen ausgelegt, und bei Tagesanbruch hörte Jun Do über sich das Knarren der Winden und das dumpfe Knallen, wenn wieder ein Hai aus dem Wasser gezogen wurde und gegen den Rumpf klatschte.
    Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang überwachte Jun Do die üblichen UKW-Frequenzen: meist Kapitäne von Fischkuttern, die Fähre zwischen Uichi und Wladiwostok, sogar den allnächtlichen Lagebericht von zwei Amerikanerinnen, die um die Welt ruderten – die eine ruderte die ganze Nacht, die andere den ganzen Tag, was die Theorie der Mannschaft, die beiden hätten sich bis ins Ostmeer vorgearbeitet, um es dort miteinander zu treiben, untergrub.
    Verborgen zwischen den Masten und Winden der Junma war eine starke Richtantenne, die sich um 360 Grad drehen ließ. Die USA, Japan und Südkorea verschlüsselten ihren militärischen Funkverkehr, er war ein einziges Pfeifen und Piepen. Aber wie viel Pfeifen wann und wo zu orten war, schien Pjöngjang schrecklich wichtig zu finden. Solange Jun Do das dokumentierte, konnte er sich ansonsten anhören, was er wollte.
    Es war offensichtlich, dass die Mannschaft ihn nicht an Bord haben wollte. Er hatte einen Waisennamen und klapperte die ganze Nacht lang unten im Dunkeln auf seiner Schreibmaschine herum. Die Besatzung bestand aus jungen Männern aus der Hafenstadt Kinjye. Seit sie jemanden an Bordhatten, dessen Aufgabe das Orten und Dokumentieren potenzieller Bedrohungen war, hielten sie ebenfalls ständig nach Gefahren Ausschau. Der Kapitän hatte als Einziger wirklich Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn Jun Do den Kurs ändern ließ, um einem ungewöhnlichen Signal hinterherzujagen, konnte der Kapitän seinen Ärger kaum verbergen: Warum hatte gerade er das Pech, einen Lauschposten auf seinem Schiff beherbergen zu müssen? Erst als Jun Do anfing, der Mannschaft von den beiden amerikanischen Mädchen zu erzählen, die um die Welt ruderten, erwärmten sie sich ein wenig für ihn.
    Wenn er sein

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