Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Tagessoll an militärischen Signalen erfüllt hatte, suchte er die Frequenzen ab. Die Leprakranken hatten ihre Sendungen, genau wie die Blinden. Die Angehörigen von Häftlingen sendeten Nachrichten in die Gefängnisse von Manila – den ganzen Tag lang standen die Familien Schlange, um von Schulzeugnissen, Milchzähnen und Aussichten auf einen neuen Job zu erzählen. Es gab einen Dr. Rendezvous, einen Briten, der jede Nacht seine erotischen »Träume« in den Äther schickte, dazu die Koordinaten, wo er als Nächstes mit seinem Segelboot vor Anker gehen würde. Ein Sender auf Okinawa stellte illegitime Kinder amerikanischer Soldaten vor, die vergebens nach ihren Vätern riefen. Einmal am Tag sendeten die Chinesen Geständnisse von Gefangenen. Diese waren falsch und erzwungen, und obwohl Jun Do die Sprache nicht verstand, konnte er sie kaum ertragen. Und dann kam das Mädchen, das im Dunkeln ruderte. Jede Nacht legte sie eine Pause ein, um ihre Koordinaten und die Wetterbedingungen durchzugeben und wie leistungsfähig ihr Körper momentan war. Oft berichtete sie auch von anderen Dingen – von nächtlichen Vogelschwärmen, von einem Walhai, der vor ihrem Bug Krill aus dem Wasser saugte. Sie könne immer besser beim Rudern träumen, sagte sie.
Wie schafften es diese Amerikaner, in ihre Funkgeräte zu sprechen, als sei der Äther ihr Tagebuch? Wenn Koreaner auch so sprächen, würde Jun Do sie vielleicht besser verstehen. Vielleicht würde er dann verstehen, warum manche Menschen ihr Schicksal hinnahmen und andere nicht. Vielleicht würde es ihm endlich einleuchten, warum manche Leute die Waisenhäuser abklapperten und nach einem ganz bestimmten Kind suchten, wenn es doch überall einwandfreie Kinder gab. Er würde wissen, warum alle Fischer auf der Junma das Bild ihrer Frau auf die Brust tätowiert hatten, während er mit Kopfhörern auf den Ohren im dunklen Frachtraum eines Fischkutters saß, der siebenundzwanzig Tage im Monat auf See war.
Nicht, dass er die beneidete, die bei Tag ruderten. Das Licht, der Himmel, das Wasser – durch all das sah man tagsüber hin durch . Nachts aber blickte man hinein . Man blickte in die Sterne, in die dunklen Wogen und in das überraschende Platinblitzen der Schaumkronen. Bei Tageslicht starrte niemand die glühende Spitze einer Zigarette an, und wer hielt schon »Wache«, wenn die Sonne am Himmel stand? Nachts beherrschten geschärfte Sinneswahrnehmung, Stille und Innehalten die Junma . Die Crewmitglieder schienen den Blick zugleich in weite Ferne und tief in ihr Inneres zu richten. Vermutlich gab es irgendwo dort draußen auf einem ähnlichen Fischkutter noch einen wie ihn, der Englisch konnte und von Sonnenauf- bis -untergang sinnlosen Signalen lauschte. Jun Do hatte gehört, die Sprachschule, auf der man Englisch sprechen lernte, sei in Pjöngjang und voll besetzt mit Yangbans , den Kindern der Elitekader, die als Vorbedingung für eine Parteikarriere im Militär dienten und dann Diplomaten wurden. Jun Do konnte sich ihre patriotischen Namen und schicken chinesischen Kleider lebhaft vorstellen – wie sie fett inder Hauptstadt hockten und Dialoge einübten: Wie man einen Kaffee bestellte, wie man ausländische Arzneimittel kaufte.
Über ihm schlug ein weiterer Hai aufs Deck, und Jun Do beschloss, Feierabend zu machen. Gerade als er seine Instrumente abdrehen wollte, hörte er die geisterhafte Übertragung: Etwa einmal pro Woche fing er eine englischsprachige Sendung auf, klar und deutlich, etwa zwei, drei Minuten lang, dann war sie wieder weg. Heute hatten die Sprecher amerikanische und russische Akzente, und wie immer setzte die Übertragung inmitten eines Gesprächs ein. Die Sprecher unterhielten sich über eine Flugbahn, ein Andockmanöver und Treibstoff. Letzte Woche war ein Japaner bei ihnen gewesen. Jun Do stellte sich an die Kurbel, mit der man die Richtantenne langsam drehten konnte. Gleichgültig, in welche Richtung er sie drehte, die Signalstärke war dieselbe, was unmöglich war. Wie konnte ein Signal von überallher kommen?
Von einer Sekunde auf die nächste schien die Übertragung einfach abzubrechen, aber Jun Do schnappte sich seinen UKW-Empfänger und eine tragbare Richtantenne und kletterte an Deck. Das Schiff war ein alter sowjetischer, für kalte Gewässer gebauter Stahlkutter, und bei dem starken Seegang tauchte der spitze, hohe Bug tief in die Wellen ein.
Jun Do klammerte sich an der Reling fest, hielt die Antenne in den Morgendunst und suchte den
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