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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Horizont damit ab. Er empfing das Geplauder der Kapitäne von Containerschiffen, und von Japan her drangen Hinweise für die Seeschifffahrt vermischt mit einem christlichen UKW-Sender herüber. An Deck war Blut, und Jun Dos Militärstiefel hinterließen betrunken schwankende Abdrücke bis zum Heck, wo er nur noch das Zwitschern und Rauschen der verschlüsselten Sendungen der US-Marine hereinbekam. Er suchte kurz den Himmel ab, wo er einen Piloten der Taiwan Air empfing, derdarüber lamentierte, dass er an den nordkoreanischen Luftraum heranrückte. Doch sonst war da nichts, das Signal war verschwunden.
    »Gibt es was, worüber ich Bescheid wissen sollte?«, fragte der Kapitän.
    »Es könnte nicht ruhiger sein«, antwortete Jun Do.
    Der Kapitän nickte zur Peilantenne auf der Brücke, die als Lautsprecher getarnt war. »Die da fällt weniger auf«, sagte er. Sie hatten die Abmachung, dass Jun Do keine Dummheiten begehen und Spionageausrüstung an Deck bringen würde. Der Kapitän war nicht mehr jung. Früher einmal war er korpulent gewesen, hatte aber auf einem russischen Gefängnisschiff eingesessen, wo er dünn geworden war, sodass seine Haut jetzt faltig an ihm herabhing. Man spürte noch, dass er einst ein starker Kapitän gewesen war, der mit klarem Blick Kommandos erteilt hatte, selbst wenn sie in von Russland beanspruchten Gewässern fischen sollten. Und man spürte, dass er ein starker Häftling gewesen war, der ohne jedes Murren geschuftet und seine Arbeit unter ständiger Beobachtung sorgsam erledigt hatte. Und jetzt schien er beides zugleich zu sein.
    Der Kapitän steckte sich eine Zigarette an, hielt Jun Do das Päckchen hin und zählte dann weiter Haie: Bei jedem, der vom Maschinisten mit der Winde an Bord gehievt wurde, klickte er einen Handzähler. Die Haie hatten im offenen Wasser an Langleinen gehangen; halb betäubt vom Sauerstoffmangel klatschten sie gegen den Schiffsrumpf, wenn sie hochgeleiert wurden. An Deck bewegten sie sich langsam, schnüffelten herum wie blinde Welpen, die Mäuler gingen auf und zu, als wollten sie etwas sagen. Aufgabe des Zweiten Maats war es, die Angelhaken herauszuholen, denn er war jung und neu auf dem Schiff, während der Erste Maat dem Hai mitsieben schnellen Schnitten die Flossen abhieb, von den Brustflossen bis zur Schwanzflosse, und ihn dann zurück ins Wasser rollte, wo der manövrierunfähige Fisch versank, in der Schwärze verschwand und nur einen dünnen Kondensstreifen aus Blut hinterließ.
    Jun Do lehnte sich über die Reling und richtete die Antenne auf den sinkenden Hai, den das Wasser in seinen Kiemen kurzzeitig wiederbelebte. Sie befanden sich über einem fast vier Kilometer hinabreichenden Tiefseegraben: Vielleicht eine halbe Stunde freien Falls. Das weiße Rauschen der Tiefsee in seinen Kopfhörern klang eher wie das unheimliche Knistern eines Todes durch Wasserdruck. Da unten gab es nichts zu belauschen – die U-Boote verständigten sich mit kurzen, niederfrequenten Telegrammen. Trotzdem richtete Jun Do die Antenne auf die Wellen und schwenkte sie langsam vom Bug zum Heck. Die Geisterübertragung musste doch von irgendwoher kommen. Wie konnte es sein, dass sie von überallher zu kommen schien, wenn sie nicht von unten kam? Er spürte die Augen der Besatzung auf sich.
    »Hast du da unten was gefunden?«, fragte der Maschinist.
    »Nein«, antwortete Jun Do, »im Gegenteil.«
    Als es hell wurde, legte sich Jun Do schlafen, während die Besatzung – Steuermann, Maschinist, Erster Maat, Zweiter Maat und Kapitän – den ganzen Tag lang Haifischflossen zwischen Salz- und Eisschichten in Kisten packte. Die Chinesen zahlten in harter Währung und nahmen es mit ihren Flossen sehr genau.
    Vor dem Abendessen, für ihn das Frühstück, wachte Jun Do auf. Er musste noch vor Einbruch der Dunkelheit seine Berichte tippen. Auf der Junma war ein Feuer ausgebrochen, dem die Kombüse, das Scheißhaus und die Hälfte der Kojen zum Opfer gefallen waren. Nur das Blechgeschirr, ein geschwärzter Spiegel und eine in der Hitze geborstene Toilettenschüssel waren übrig geblieben. Aber der Herd funktionierte noch, und es war Sommer, weswegen alle zum Essen auf den Ladeluken saßen, sodass die Männer ausnahmsweise einmal den Sonnenuntergang sehen konnten. Am Horizont schwamm eine amerikanische Flugzeugträgerkampfgruppe; es war kaum zu glauben, dass derart riesige Schiffe nicht einfach untergingen. Sie wirkten wie eine uralte, stillstehende Inselgruppe, mit eigenen

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