Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Sachen nicht. An Bucs Wand hing ein Gestell mit langen, dünnen Tabakspfeifen, die die männliche Linie der Familie nachzeichneten. Ga hatte das Dasein immer für willkürlich gehalten – wer lebteoder starb, wer reich war oder arm – doch diese Familie ließ sich unübersehbar bis an den Hof der Joseon-Zeit zurückverfolgen, sie waren die Nachkommen von Gesandten und Gelehrten und von Leuten, die im Guerillakampf an Kim Il Sungs Seite gestanden hatten. Es war kein Zufall, dass ein Niemand in einer Militärbaracke schlief und ein Jemand in einem Haus auf dem Gipfel eines Berges.
Aus dem Nebenraum hörte er ein mechanisches Geräusch, und dort entdeckte er dann Genosse Bucs Frau, wie sie mit dem Fußpedal eine Nähmaschine antrieb und bei Kerzenlicht ein weißes Kleid nähte.
»Yun ist aus ihrem Kleid herausgewachsen«, sagte sie und führte die Kerze prüfend an der gerade geschlossenen Naht entlang. »Ich nehme an, Sie suchen meinen Mann.«
Er bemerkte ihre Ruhe – die Ruhe, die kommt, wenn man die Unvorhersagbarkeit des Lebens akzeptiert hat.
»Ist er da?«
»Morgen treffen die Amerikaner ein«, sagte sie. »Er kommt schon die ganze Woche spät nach Hause; er kümmert sich um die letzten Details für Ihren Plan zu deren Begrüßung.«
»Der Plan stammt vom Geliebten Führer, nicht von mir«, erwiderte er. »Haben Sie das Auto gehört? Es hat Sun Moon mitgenommen.«
Genosse Bucs Frau wendete das Kleid auf links, um es noch einmal zu prüfen. »Yuns Kleid bekommt jetzt Jia«, sagte sie. »Jias Kleid wird bald Hye Kyo passen, und Hye Kyos wartet dann auf Su Ki. Die scheint kaum zu wachsen.« Sie trieb das Fußpedal von Neuem an. »Bald kann ich wieder eines von Su Kis Kleidern zusammenfalten und weglegen. Das sind für mich die Marksteine unseres Lebens. Das hoffe ich später einmal zurückzulassen: Eine lange Reihe nie getragener weißer Kleider.«
»Ist Genosse Buc beim Geliebten Führer? Wissen Sie, wo die beiden sein könnten? Ich habe ein Auto – wenn ich wüsste, wo Sun Moon ist, könnte ich –«
»Wir verraten einander nichts«, erwiderte sie. »So ist unsere Familie sicher. So schützen wir uns gegenseitig.« Sie trennte einen Faden durch und wendete das Kleid unter der Nadel. »Mein Mann sagt, ich soll mir keine Sorgen machen. Sie hätten ihm etwas versprochen, und von uns sei niemand in Gefahr, denn Sie hätten ihm Ihr Wort gegeben. Ist das wahr, haben Sie ihm ein Versprechen gemacht?«
»Ja.«
Sie sah ihn an und nickte. »Trotzdem kann man nie wissen, was die Zukunft bringt. Diese Nähmaschine war ein Brautgeschenk. Als ich damals mein Ehegelübde ablegte, hätte ich nicht erwartet, dass ich darauf einmal solche Kleider nähen würde.«
»Wenn es so weit ist – macht es dann etwas aus, was die Kinder tragen?«
»Früher hatte ich meine Nähmaschine im Fenster stehen, damit ich hinausschauen konnte«, sagte sie. »Als ich noch ein Mädchen war, fingen wir Schildkröten im Taedong, malten ihnen politische Parolen auf den Rücken und ließen sie wieder frei. Wir haben jeden Abend mit Netzen Fische gefangen und den Kriegsveteranen gebracht. Die Bäume, die jetzt alle umgehauen werden – die haben wir gepflanzt. Wir hielten uns für die glücklichsten Menschen in der glücklichsten Nation auf Erden. Inzwischen sind alle Schildkröten aufgegessen, und anstelle von Fischen gibt es nur noch Flussaale. Die Welt ist vor die Hunde gegangen. Meine Mädchen werden nicht wie Tiere aus der Welt gehen.«
Ga hätte ihr gern erklärt, dass es diese gute alte Zeit in Ch'ŏngjin überhaupt nie gegeben hatte. Stattdessen sagte er:»In Amerika nähen die Frauen etwas, das eine Geschichte erzählt. Sie setzen verschiedene Stoffstücke aneinander, und die berichten vom Leben einer Person.«
Genosse Bucs Frau nahm den Fuß vom Pedal.
»Und welche Geschichte wäre das?«, wollte sie wissen. »Die von dem Mann, der in die Stadt kommt und alles zerstört, was ich habe? Wo finde ich den Stoff, der davon erzählt, wie er meinen Nachbarn tötet, seinen Platz einnimmt und meinen Mann in eine Sache verwickelt, die mich alles kosten wird?«
»Es ist spät«, sagte Kommandant Ga. »Entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Er wandte sich zum Gehen, doch an der Tür hielt sie ihn auf.
»Hat Sun Moon etwas mitgenommen?«, fragte sie.
»Ein Janggi -Brett.«
Genosse Bucs Frau nickte. »Nachts verlangt der Geliebte Führer nach Inspiration.«
Ga warf einen letzten Blick auf den weißen Stoff und dachte an das Mädchen,
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