Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Zigarette mit einem tiefen Zug zum Glimmen.
»Dir kommen Zweifel«, sagte er. »Das ist normal. Soldaten haben sie vor jedem Einsatz. Dein Mann hatte sie vermutlich ständig.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Mein Mann hat niemals an irgendetwas gezweifelt.«
Als er ihr die Zigarette hinstreckte, sah sie, wie er sie in den Fingern hielt, und wandte sich wieder den Lichtern der Stadt zu. »Jetzt rauchst du wie ein Yangban «, stellte sie fest. »Mir hat das gefallen, wie du am Anfang geraucht hast, als du noch ein Junge aus Nirgendwo warst.«
Er streckte die Hand aus und schob ihr Haar zur Seite, sodass er ihr Gesicht sehen konnte.
»Ich werde immer ein Junge aus Nirgendwo sein«, sagte er.
Sie schüttelte ihr Haar wieder zurecht und verlangte dann mit zwei zum V gespreizten Fingern nach ihrer Zigarette.
Er fasste sie am Arm und drehte sie zu sich.
»Du darfst mich nicht berühren«, sagte sie. »Du kennst die Regeln.«
Sie versuchte, ihn abzuschütteln, aber er hielt sie fest.
»Regeln?«, fragte er. »Morgen werden wir jede Regel brechen, die es gibt!«
»Morgen ist noch nicht da.«
»Es kommt aber näher«, sagte er. »Sechzehn Stunden, so lange dauert der Flug von Texas. ›Morgen‹ ist schon jetzt in der Luft, es fliegt um die Welt auf uns zu.«
Sie nahm die Zigarette. »Ich weiß, was du im Sinn hast«, sagte sie. »Ich weiß, was du mit deinem Gerede von morgen bezwecken willst. Doch dafür haben wir noch Zeit genug, eine Ewigkeit. Verlier nicht aus dem Blick, was wir zu tun haben. Sehr viel muss klappen, bis das Flugzeug mit uns abheben kann.«
Noch immer ließ er ihren Arm nicht los. »Und was ist, wenn etwas schiefgeht? Hast du dir das mal überlegt? Was, wenn heute alles ist, was uns noch bleibt?«
»Heute, morgen«, sagte sie. »Ein Tag ist doch gar nichts. Ein Tag ist nichts als ein Streichholz, das man anzündet, nachdem zehntausend andere Streichhölzer verglüht sind.«
Er ließ sie los, und sie lehnte sich auf das Geländer, rauchte. In einem Stadtbezirk nach dem anderen erloschen die Lichter. In der immer dunkler werdenden Landschaft machten sich die Lichter eines Fahrzeugs bemerkbar, das die Serpentinen am Hang erklomm.
»Du willst mich?«, fragte sie schließlich. »Du kennst mich doch gar nicht.«
Er steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Die Lichter im Stadion 1. Mai leuchteten noch, und die im Zentralen Filmstudio nördlich der Stadt, an der Straße zum Flughafen. Die übrige Welt lag im Dunkeln.
»Deine Hand sucht meine, wenn du schläfst«, sagte er. »Das weiß ich.«
Sun Moons Zigarette glühte rot auf, als sie einen tiefen Zug nahm.
»Ich weiß, dass du fest zusammengerollt schläfst«, fügte er hinzu, »dass du, ob nun Yangban oder nicht, nicht mit einem Bett großgeworden bist. Als Kind hast du wahrscheinlich auf einer schmalen Pritsche geschlafen, und wenn du auch nie von Geschwistern gesprochen hast, hast du wahrscheinlich deine Hand nach deinem Bruder oder deiner Schwester ausgestreckt, die neben dir schlief.«
Sun Moon starrte geradeaus, als hätte sie ihn nicht gehört. In der Stille war das Motorengeräusch des Wagens soeben zu erahnen, doch was für eine Marke es war, ließ sich nicht erraten. Ga blickte nach nebenan, ob Genosse Buc den Wagen gehört hatte und auf seinem Balkon stand, aber im Nachbarhaus war alles dunkel.
Kommandant Ga fuhr fort: »Ich weiß, dass du dich einmal morgens schlafend gestellt hast, damit ich dich in Ruhe betrachten konnte, damit ich die Verdickung an deinem Schlüsselbein sehen konnte, wo dir einmal jemand eine Verletzung beigebracht hat. Du hast mich die Narben an deinen Knien sehen lassen – Narben, die mir verrieten, dass du einst hart gearbeitet hast. Du wolltest, dass ich die echte Sun Moon kennenlerne.«
»Die habe ich vom Tanzen«, sagte sie.
»Ich habe all deine Filme gesehen«, entgegnete er.
»Ich bin nicht ›meine Filme‹«, fuhr sie ihn an.
»Ich habe all deine Filme gesehen«, wiederholte er, »und in jedem trägst du dieselbe Frisur – glatte, die Ohren bedeckende Haare. Doch als du so getan hast, als würdest du schlafen –« und hier streckte er wieder die Hand nach ihrem Haar aus und berührte mit dem Finger ihr Ohrläppchen – »da hast du mich sehen lassen, dass jemand deinem Ohr einen Schlitzverpasst hat. Hatte ein Mitarbeiter des MfSS beobachtet, wie du etwas von einem Marktstand stibitzt hast? Oder dich beim Betteln erwischt?«
»Es reicht«, sagte sie.
»Das war nicht die erste
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