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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Schauspielerin, ganz blau und grün im Gesicht. Alt sieht sie aus, als ob ihre besten Zeiten vorüber wären. Kennst du ihre Filme?«
    Als er den Kopf schüttelte, tat sein Nacken weh.
    »Ich auch nicht«, sagte sie. »Nicht in diesem Provinzkaff. Der einzige Film, den ich gesehen habe, war aus dem Ausland. Eine Liebesgeschichte.« Sie tauchte den Waschlappen wieder in heißes Wasser und tupfte die wulstigen Nähte auf seinem Arm ab. »Er handelte von einem Schiff, das gegen einen Eisberg fährt, und alle sterben.«
    Sie kniete sich neben ihn auf die Pritsche. Mit kräftigem Griff rollte sie ihn auf die Seite. Sie hielt ihm ein Einmachglas hin und manövrierte seinen Umkyoung hinein. »Los geht’s«, sagte sie und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Sein Körper pochte vor Schmerzen, aber dann löste sich doch ein Strahl. Als er fertig war, hob sie das Glas ans Licht. Die Flüssigkeit war trübe und rostfarben. »Schon besser«, sagte sie. »Bald kannst du wieder wie ein großer Junge selber zum Gemeinschaftsklo gehen.«
    Jun Do versuchte, sich ohne Hilfe zurück auf den Rücken zu rollen, schaffte es aber nicht und blieb zusammengekrümmt auf der Seite liegen. An der Wand, unterhalb der Bildnisse des Großen und des Geliebten Führers, war ein kleines Regal, auf dem die Amerikaschuhe des Zweiten Maats standen. Jun Do zerbrach sich den Kopf darüber, wie er sie nach Hause geschafft haben mochte, wo doch die gesamte Besatzung dabei zugesehen hatte, wie die Dinger über Bord gingen. An die Wand gepinnt war die große Seekarte der Junma . Das gesamte Koreanische Ostmeer war darauf zu sehen; alle anderen Karten an Bord bezogen sich auf diese Hauptkarte. Alle hatten angenommen, dass sie zusammen mit den anderen dem Feuer zum Opfer gefallen war. Stecknadeln markierten sämtliche Fischgründe, die sie angefahren hatten, und im Norden waren an mehreren Stellen mit Bleistift Koordinaten eingetragen.
    »Ist das der Kurs der Rudermädchen?«, fragte Jun Do.
    »Was für Rudermädchen?«, fragte sie zurück. »Das ist eine Karte mit allen Orten drauf, wo er schon war. Die roten Nadeln sind Städte, von denen er schon mal gehört hat. Er hat immer davon geredet, wohin er mal mit mir fahren würde.«
    Sie sah Jun Do fragend in die Augen.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Hat er das wirklich gemacht? Hat er wirklich einen Trupp amerikanischer Soldaten mit dem Messer bedroht, oder ist das irgendein Schwachsinn, den ihr euch ausgedacht habt?«
    »Und warum würdest du mir glauben?«
    »Weil du vom Geheimdienst bist«, antwortete sie. »Weil dir sowieso alle hier in diesem Scheißkaff egal sind. Wenn dein Auftrag erledigt ist, gehst du zurück nach Pjöngjang und denkst nie wieder an uns Fischerleute.«
    »Und was ist mein Auftrag?«
    »Es wird einen Krieg auf dem Meeresgrund geben«, vertraute sie ihm an. »Vielleicht hätte mir mein Mann das nicht erzählen dürfen, hat er aber getan.«
    »Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin Funker, nichts weiter. Und, ja, dein Mann hat sich der amerikanischen Marine mit nichts als einem Messer bewaffnet gegenübergestellt.«
    Voll stummer Bewunderung schüttelte sie den Kopf.
    »Er hatte so viele verrückte Pläne«, sagte sie. »Wenn man das hört, sollte man fast glauben, dass er einen davon in die Tat umgesetzt hätte, wenn er nicht umgekommen wäre.«
    Sie löffelte Jun Do gesüßtes Reiswasser in den Mund, rollte ihn dann wieder auf den Rücken und deckte ihn zu. Es wurde dunkel im Zimmer, und bald würde der Strom abgeschaltet.
    »Ich muss noch mal weg«, sagte sie. »Wenn etwas ist, ruf einfach, dann ist die Blockwartin sofort an der Tür. Die steht schon auf der Matte, wenn hier jemand einen fahren lässt.«
    Sie wusch sich bei der Tür, wo er sie nicht sehen konnte. Er hörte nur das Wispern des Waschlappens auf ihrer Haut und das Wasser, das von ihrem Körper in die Schüssel tropfte, in der sie hockte. Er fragte sich, ob es derselbe Lappen war, mit dem sie auch ihn gewaschen hatte.
    Dann stand sie vor ihm in einem Kleid, dem man ansah,dass es von Hand ausgewrungen und zum Trocknen aufgehängt worden war. Sie war eine echte Schönheit, hochgewachsen und breitschultrig und doch in eine Schicht weichen Babyspecks gehüllt, das sah er, auch wenn seine Augen noch etwas verklebt waren. Ihre Augen waren groß, ihr Blick schwer zu lesen, ein schwarzer Pagenschnitt rahmte ihr rundes Gesicht ein. In der Hand hielt sie ein Englischwörterbuch. »Ich habe schon öfter Leute gesehen, die sie in

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