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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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trank er ihn.»Sonst ist keiner nass geworden«, sagte er. »Sonst hat keiner Haifischbisse abgekriegt.« Er ließ den Blick durch das Gebäude streifen, als frage er sich zum ersten Mal, wo er hier sein mochte. »Ich werde demnächst pensioniert«, sagte er. »Bald sind alle alten Hasen weg. Ich weiß nicht, was dann aus diesem Land wird.«
    »Und was wird aus ihr?«, fragte Jun Do.
    »Der Frau des Zweiten Maats? Keine Sorge, wir finden einen guten Mann für sie. Jemanden, der seines Andenkens würdig ist.«
    Der alte Mann schüttelte eine Zigarette aus seinem Päckchen und steckte sie sich mühevoll an. Eine Chollima, die Marke, die man in Pjöngjang rauchte. »Euer Schiff scheint ja wirklich die reinste Heldenfabrik zu sein«, sagte er.
    Jun Do versuchte, den Infusionsbeutel abzulegen, aber seine Hand wollte einfach nicht loslassen. Wie man seinen Arm abschaltete, damit man nichts mehr darin spürte, konnte man lernen, aber wie schaltete man ihn wieder ein?
    »Du kriegst meine amtliche Bescheinigung«, sagte der Alte. »Deine Geschichte hat die Prüfung bestanden.«
    Jun Do sah ihn an. »Welche Geschichte?«
    »Welche Geschichte?«, fragte der Alte zurück. »Du bist jetzt ein Held.«
    Er hielt Jun Do eine Zigarette hin, aber Jun Do konnte sie nicht nehmen.
    »Aber die Fakten«, entgegnete Jun Do. »Die passen nicht zusammen. Wo sind die Antworten?«
    »Fakten gibt es nicht. In meiner Welt kommen alle Antworten, die man braucht, von hier.« Er zeigte auf sich selbst, aber ob er auf sein Herz, seinen Bauch oder seine Eier wies, war schwer zu sagen.
    »Aber wo sollen wir sie suchen?«, fragte Jun Do. Er konnte das Rudermädchen sehen, das Leuchtkugeln in seine Richtung abschoss, er konnte die kalte Wange des Maats spüren, während die Haie ihn nach unten zogen. »Werden wir sie jemals finden?«

JUN DO TRÄUMTE von Haien, die ihn bissen, von der Schauspielerin Sun Moon, die verzweifelt blinzelte, so wie damals Rumina, als sie den Sand in die Augen bekommen hatte. Er träumte vom Zweiten Maat, der immer weiter in das grelle Licht hineintrieb. Schmerzen durchzuckten ihn – schlief er oder war er wach? Seine Augäpfel kreisten unter zugeschwollenen Lidern. Der endlose Fischgestank. Das Schrillen der Fabriksirenen markierte den Anbruch eines Heldentags der Arbeit, und dass es Nacht geworden war, wusste er, wenn zusammen mit dem Strom das Summen eines Kühlschranks in seiner Nähe ausging.
    All seine Gelenke waren wie eingerostet, und wenn er tief einatmete, entfesselte das ein Höllenfeuer aus Schmerz. Als sein guter Arm endlich hinübergreifen und den verletzten betasten konnte, spürte er dort etwas wie die dicken Borsten einer Pferdebremse – man hatte ihn scheinbar mit einem festen Faden zusammengeflickt. Sehr dunkel erinnerte er sich daran, wie man ihm die Treppe des Wohnblocks hinaufgeholfen hatte, in die Wohnung des Zweiten Maats und seiner Frau.
    Der Lautsprecher – Bürger! – unterhielt ihn tagsüber. Am Nachmittag kam sie aus der Konservenfabrik nach Hause, an den Händen noch schwacher Maschinenölgeruch. Der kleine Teekessel rasselte und pfiff, und sie summte beim Kim-Jong-Il-Marsch mit, der immer am Ende der Nachrichten gespielt wurde. Dann desinfizierten ihre vom Alkohol eiskalten Hände seine Wunden. Dieselben Hände rollten ihn nach rechts und nach links, um die Laken zu wechseln und seine Blase zuentleeren, und er glaubte, den Ehering an ihrem Finger zu spüren.
    Bald ließen die Schwellungen nach, und seine Augen waren nicht mehr entzündet, sondern nur noch verklebt. Mit einem dampfend heißen Waschlappen weichte sie den Schorf auf. »Da ist er ja«, sagte die Frau des Zweiten Maats, als er endlich wieder sehen konnte. »Der Mann, der Sun Moon liebt.«
    Jun Do hob den Kopf. Er lag unter einem hellgelben Laken nackt auf einer Pritsche am Boden. Er erkannte die Lamellenfenster des Wohnblocks. Quer durchs Zimmer waren Drähte gespannt, an denen kleine Barsche wie Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren.
    Sie sagte: »Mein Vater war überzeugt, dass seine Tochter nicht zu hungern bräuchte, wenn sie einen Fischer heiratet.«
    Er sah die Frau des Zweiten Maats an.
    »In welchem Geschoss sind wir hier?«, fragte er.
    »Im zehnten.«
    »Wie hast du mich hier hochgekriegt?«
    »So schwer war das nicht. So, wie mein Mann dich beschrieben hat, dachte ich, du wärst viel größer.« Sie fuhr ihm mit dem warmen Waschlappen über die Brust, und er versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Deine arme

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