Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
der Konservenfabrik fertiggemacht haben«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund.« Und dann fügte sie auf Englisch hinzu: » Sweet dreams !«
*
Am Morgen fuhr er aus dem Schlaf – ein Traum, der in stechendem Schmerz geendet hatte. Das Betttuch roch nach Zigaretten und Schweiß. Da wusste er, dass sie neben ihm geschlafen hatte. Neben der Pritsche stand ein Glas; der Urin darin wirkte wie mit Jod eingefärbt. Aber wenigstens war die Flüssigkeit klar. Er berührte das Glas – kalt. Als er sich endlich aufgesetzt hatte, war sie nirgendwo zu sehen.
Das Licht wurde vom Meer zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit strahlender Helligkeit. Er hob das Laken: Blaue und grüne Blutergüsse blühten auf seiner Brust, seine Rippen waren mit offenen Platzwunden übersät. Die Nähte waren verkrustet, und man roch, dass sie vereitert waren. Der Lautsprecher grüßte ihn: »Bürger, heute wurde bekannt gegeben, dass eine nordkoreanische Delegation Amerika besuchen wird, um die Schwierigkeiten zu diskutieren, die zwischen unseren beiden mächtigen Nationen bestehen.« Dann ging die Radiosendung gemäß der gewohnten Formel weiter: Belege für die weltweite Anerkennung Nordkoreas, ein weiteres Exempel der gottgleichen Weisheit Kim Jong Ils, ein neuer Tipp, wie die Bürger dem Hungertod entgehen konnten, und schließlich Ermahnungen verschiedener Ministerien an die Zivilbevölkerung.
Zugluft brachte die Trockenfische an der Leine zum Schwanken; ihre Flossen sahen so durchsichtig aus wie Transparentpapier. Vom Dach waren Kläffen und Jaulen und das ständige Klicken von Klauen auf Beton zu hören. Zum ersten Mal seit Tagen bekam Jun Do Hunger.
Die Tür ging auf, und die Frau des Zweiten Maats kam schwer atmend herein.
Sie schleppte einen Koffer und zwei Fünf-Liter-Wasserbehälter. Sie schwitzte und hatte ein seltsames Grinsen im Gesicht.
»Wie findest du meinen neuen Koffer?«, fragte sie. »Hab ich getauscht.«
»Was hast du dafür hergegeben?«
»Ist doch egal«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass ich nicht mal einen Koffer hatte?«
»Wahrscheinlich bist du nie verreist.«
»Wahrscheinlich bin ich nie verreist«, sagte sie zu sich selbst.
Sie schöpfte ihm etwas Reiswasser in eine Plastiktasse.
Er trank und fragte dann: »Sind auf dem Dach Hunde?«
»So ist das Leben im obersten Stock«, antwortete sie. »Aufzug kaputt, Dach undicht, Toilettengerüche. Die Hunde höre ich nicht mal mehr. Der Blockwart züchtet die. Du solltest sie mal sonntags hören.«
»Wofür werden die gezüchtet? Und was ist sonntags?«
»Die Männer in der Karaokebar haben gesagt, in Pjöngjang sind Hunde verboten.«
»Ja, angeblich.«
»Fortschritt«, sagte sie.
»Vermissen die dich gar nicht in der Konservenfabrik?«
Sie gab keine Antwort, sondern kniete sich hin und durchwühlte die Kofferfächer nach Hinterlassenschaften des Vorbesitzers.
Jun Do sagte: »Du kriegst bestimmt eine Selbstkritiksitzung aufgebrummt.«
»Ich gehe nicht mehr in die Konservenfabrik«, erklärte sie.
»Gar nicht mehr?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich gehe nach Pjöngjang.«
»Du gehst nach Pjöngjang.«
»Ganz genau«, sagte sie. Im Innenfutter des Koffers fand sie abgelaufene Reisepapiere, die an jeder Kontrollstelle zwischen Kaesŏng und Ch'ŏngjin abgestempelt worden waren. »Meistens dauert es mehrere Wochen, aber ich habe irgendwie ein gutes Gefühl. Vielleicht passiert es ja schon morgen.«
»Was passiert morgen?«
»Dass sie einen Ersatzmann für mich finden.«
»Und du glaubst also, der ist in Pjöngjang?«
»Ich bin die Frau eines Helden«, erwiderte sie.
»Die Witwe, meinst du.«
»Sag das nicht. Witwe klingt furchtbar.«
Jun Do trank sein Reiswasser aus und legte sich ganz, ganz langsam wieder hin.
»Es ist doch so«, sagte sie. »Was mit meinem Mann passiert ist, ist furchtbar. Ich darf gar nicht daran denken. Ehrlich, sobald meine Gedanken dahin wandern wollen, dann wendet sich etwas in mir einfach ab. Aber wir waren ja nur ein paar Monate verheiratet, und davon war er fast die ganze Zeit bei euch an Bord.«
Das Aufsetzen hatte Jun Do sehr angestrengt, und als sein Kopf jetzt die Pritsche berührte, war es ein herrliches Gefühl,sich der Erschöpfung zu überlassen. Ihm tat praktisch alles weh, und doch überkam ihn ein körperliches Wohlbefinden, als habe er zusammen mit seinen Kameraden den ganzen Tag geschuftet. Er schloss die Augen; als er sie wieder aufmachte, war es Nachmittag. Möglicherweise hatte ihn das
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